Wildfang
Von ERWIN SEITZ25.12.2017 · Früher war Wildgeflügel ein Festessen an Fürstenhöfen. Heute sind Fasan, Schnepfe und Rebhuhn rar geworden. Eine Reise ins Burgenland führt in eine verloren geglaubte kulinarische Welt.
E s gab einmal eine Zeit, da gehörte das Wildgeflügel zum Feinsten, was die Küche zu bieten hatte. Marx Rumpolt, der „Mundtkoch“ des Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz, veröffentlichte 1581 sein „Neues Kochbuch“ und stellte darin mehrere Menüfolgen vor, gestaffelt nach sozialen Ständen: für Kaiser, Könige, Kurfürsten, Herzöge, Grafen, Edelleute, Bürger und Bauern. Auf den Festbanketten der hohen Herrschaften wimmelte es von Wildgeflügel.
Es begann mit „kleinen Vögeln“, vorzugsweise Lerchen und Krammetsvögeln, die im Herbst fett, zart und saftig waren und besonders würzig schmeckten. Der Begriff „Grammet-Baum“ war im Oberdeutschen ein anderes Wort für Wacholderstrauch, weshalb der Krammetsvogel auch Wacholderdrossel hieß. Rumpolt führte weitere Berühmtheiten an: Wachtel, Schnepfe, Rebhuhn, Haselhuhn, Fasan, Wildente, Wildgans, Auerhahn und Birkhuhn.
Bis ins frühe 20. Jahrhundert änderte sich kaum etwas an der prachtvollen Parade heimischen Wildgeflügels. Die ökologische Grundlage der Tiere blieb intakt – bis die industrielle Landwirtschaft ihre Lebensräume einschränkte oder vielerorts zerstörte: durch riesige Ackerflächen, die mit Pestiziden und Herbiziden bearbeitet werden. Es fehlen mittlerweile natürliche Schutzräume für Wildgeflügel wie Hecken und benachbartes Brachland.
Seit dem 19. Jahrhundert stieg auch die Hemmschwelle, „kleinen Vögeln“ wie Wacholderdrossel, Lerche oder Rotkehlchen ein Leid anzutun. Schon um 1800 erklärte der französische Gastrosoph Grimod de la Reynière in seinem „Küchenkalender“: „Das Rotkehlchen ist ein schlagender Beweis für die traurige Wahrheit, dass der Feinschmecker im höchsten Grade unmenschlich und grausam ist: denn er hat nicht einmal Mitleid mit diesem schmucken kleinen Zugvogel.“ Der Gastrosoph selbst ging aber spielend über die Bedenken hinweg: „Wenn man mit allem Mitleid haben wollte, so würde man am Ende gar nichts mehr essen dürfen.“
Peter Singer stellt heute in seinem Buch „The Expanding Circus“ die These auf, dass sich das Mitgefühl der Menschen auf einen immer größeren Kreis von Lebewesen erweitere. Wäre es stattdessen aber nicht wichtiger, uralte ökologische Zusammenhänge zu erhalten oder zu rekultivieren, den Kreislauf von schonender Jagd, biologischem Landbau, vielfältiger gesunder Ernährung und Feinschmeckerei? Naturschützer plädieren dafür, angesichts gefährdeter Bestände des Wildgef lügels ganz auf die Jagd dieser Tiere zu verzichten. Doch die Jagd ist nicht das Problem – es ist die industrielle Landwirtschaft.
Die kulinarische Vorliebe für Wildgeflügel könnte die Aufmerksamkeit für die Tiere fördern. Am Ende sind es neben Naturschützern auch Jagdverbände, die sich für den Erhalt der Artenvielfalt einsetzen. Nur das Miteinander weist den Weg in die Zukunft: Nötig wäre ein Bündnis von Köchen, Jägern, Naturschützern, Ökobauern, Behörden, Politikern und Wissenschaftlern, das die Lebensweise des Wildgeflügels erforscht.
I m deutschsprachigen Gebiet fällt eine Region auf, die über verhältnismäßig viel Wildgeflügel verfügt: das österreichische Burgenland. Dort entdeckt man auch Gasthäuser, die ein Faible für das Wildgeflügel haben, darunter das „Gut Purbach“ in Purbach am Neusiedler See. Max Stiegl, Patron und Küchenchef des Guts, bietet die gesamte Palette an Wildgeflügel aus der Region an. Stiegl ist als Koch bodenständig und extravagant. Er weiß daher auch, was Schnepfendreck ist. Die Grundlage dafür sind die Eingeweide der Schnepfe, neben Innereien auch Gedärme mit Inhalt. Gewöhnlich kommen Gedärme für den menschlichen Verzehr nur bedingt in Frage. In der mittelalterlichen Küche war das noch anders. Damals galten Magen, Kutteln und Därme von Kalb und Schwein als Delikatesse, allerdings in gesäuberter Form. Bei der Schnepfe hat sich diese Eingeweideküche erhalten, und zwar mit Inhalt, also mit all dem, was das Tier frisst, fein zerkleinert: Spinnen, Larven, Beeren, Pilze, Fichtennadeln – ein Gemisch von besonderer Würze. In vielen deutschsprachigen Kochbüchern der Frühen Neuzeit findet man Rezepte für Schnepfendreck.
In Mitteleuropa geht es dabei meist um die Waldschnepfe. Sie ist etwa so groß wie eine Taube und braungrau gefiedert, mit charakteristischem langem spitzen Schnabel und hohen Beinen. Heute dürfen Waldschnepfen nach Vorgaben der EU nur noch eingeschränkt bejagt werden, entweder im Frühjahr oder im Herbst. In Deutschland und in Österreich können sich die Bundesländer für eine der Varianten entscheiden.
Im Frühjahr ist die Jagd ergiebiger, weil man die männlichen Tiere im Balzflug leicht erlegen kann. Doch sind sie in dieser Zeit mager und nicht so zart und saftig. Im Herbst ist die Jagd weniger ertragreich, aber die Schnepfen sind gut genährt und schmackhaft.
Das Burgenland hat sich für die Herbstjagd entschieden. Das führte dazu, dass von der geringen Beute kaum etwas in die Gasthäuser kommt. Das benachbarte Niederösterreich bevorzugt die Frühjahrsjagd. Die Tiere werden dort oft gleich nach dem Abschuss tiefgefroren, damit die Eingeweide nicht zu gären beginnen. Max Stiegl greift auf Ware aus Niederösterreich zurück, auch für den Herbst – und stellt damit Schnepfendreck her.
Er lässt die Schnepfe über Nacht auftauen, rupft sie am nächsten Morgen und brät sie erst im Ganzen mit heißem Fett in der Pfanne an, etwa fünf Minuten. Dann nimmt er die Eingeweide heraus, entfernt neben der Galle auch den zähen Magen, zerschneidet das Übrige, brät es an und kuttert es, bindet die Masse mit Eidotter und streicht sie auf geröstete Brotstücke. Diese legt er auf den Teller neben die gebratene Schnepfe. Ist das nun Sünde oder Barbarei? Oder gehört es zu den seltenen Momenten außergewöhnlicher Feinschmeckerei? Der Schnepfendreck schmeckt jedenfalls köstlich, auch dank der Würze mit Majoran, Speck, Gänseleber, Cognac, Eidotter. Entzückend ist die Konsistenz, die an gelierten Kalbskopf und Kalbskutteln erinnert. Die Brüste der Schnepfe sind mager, aber von tiefem Wildgeschmack, wie etwa beim Hasen.
E igentlich war das Rebhuhn vor dem Fasan in Mitteleuropa. Es traf vermutlich vor 7500 Jahren mit den ersten Bauern in unseren Breiten ein, denn es lebt nicht im Wald, sondern in freier Flur, die hierzulande entstand, als Wälder gerodet sowie Äcker und Feldraine angelegt wurden. Man nennt das Rebhuhn deshalb auch einen Kulturfolger, einen Begleiter menschlichen Landbaus seit Urzeiten, ähnlich wie Wachtel, Feldlerche und Feldhase.
Noch im 19. Jahrhundert war das Rebhuhn die Speise der feinen Lebenswelt. In Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ wird der Schneider Wenzel Strapinski für einen vornehmen Herrn gehalten, weil er zu den richtigen Stücken greift: „Abermals lief der Wirt in die Küche und rief: ‚Köchin! Er isst die Pastete auf, während er den Braten kaum berührt hat! Und den Bordeaux trinkt er in halben Gläsern!‘ – ‚Wohl bekomm’ es ihm‘, sagte die Köchin, ‚lassen Sie ihn nur machen, der weiß, was Rebhühner sind!‘“
Während das Rebhuhn-Männchen ein Gentleman ist und sich kaum unterscheidet von der Henne, gebärdet sich der männliche Fasan wie ein Dandy oder Stutzer und stellt das eigene Weibchen an Farbenpracht in den Schatten. Beide haben einen fast kugelförmigen Körper, den ein graubraunes Federkleid schmückt. Der Fasanenhahn stolziert wie ein Exot über das Feld. Die Farben gehen über von Dunkelgrün zu Purpur, Blau, Bronze, Kupfer, rötlichem Gold, während die Henne in bräunlicher Tarnfärbung erscheint. Das Ursprungsgebiet reicht vom Schwarzen Meer bis nach Zentralasien, was für alle fasanenartigen Hühnervögel gilt, auch für Rebhuhn, Wachtel oder Bankivahuhn, die Stammform des Haushuhns. Dieses wurde von den Griechen, der Fasan erst von den Römern nach Europa eingeführt. Seither reißen die Lobeshymnen über Rebhuhn und Fasan nicht ab.
Das „Gasthaus Csencsits“ im Burgenländer Dorf Harmisch bietet an manchen Tagen die Gelegenheit zum Vergleich. Die Fasanenbrust wird ähnlich zubereitet wie die Rebhuhnbrust: in der Pfanne mit Butter gebraten und dann im Holzofenrohr nachgegart, auf dem Teller begleitet von Kürbispüree und Kohlrabischaum. Die Fasanenbrust ist wunderbar zart und saftig und erinnert im Geschmack zunächst an ein exzellentes Bio-Haushuhn aus der Freilandhaltung. Sie wird aber auch sanft von Wildtönen untermalt, wenngleich nicht so deutlich wie das Rebhuhn. Sie schmeckt aber noch feiner – königlich eben.
G anz unten im Burgenland, im äußersten Südosten, stößt man auf eine Region mit eigentümlichem Flair. Statt über Autobahnen oder Schnellstraßen fährt man dort über schmale, kurvige Landstraßen und durch kleine Dörfer. Man genießt die Langsamkeit, die sich einstellt, und schließlich erreicht man den Naturpark Weinidyll, mit malerischen Winzerorten wie Deutsch Schützen-Eisenberg. Dort beenden die steilen Weinberge die mitteleuropäische Landschaft nach Osten und geben den Blick nach Ungarn frei.
Im Hinterland von Deutsch Schützen-Eisenberg liegt das Dorf Harmisch. Wer an einem dämmrigen Abend eintrifft, hat das Gefühl, dass sich hier Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Er herrscht wunderbare Ruhe. Aber in einem Gasthaus brennt noch Licht: im „Csencsits“ . Das Besondere daran ist der Wirt, der als Küchenchef am Herd steht: Jürgen Csencsits, unterstützt von seiner Frau Melanie, die für guten Service sorgt. Der Gast erlebt das Ideal einer feinen Landküche, mit viel Wild im Herbst, darunter auch Wildgeflügel, nicht zuletzt Rebhuhn und Fasan.
Ein Onkel des Patrons ist Jäger und bringt dem Neffen die gewünschten Tiere, soweit möglich. Das Wildgeflügel wird küchenfertig geliefert, ausgenommen und mit Haut. Dann hängen Rebhuhn und Fasan in der Regel noch eine Woche im Kühlhaus, damit das Fleisch genug Zeit zum Reifen hat und zart wird. Andernorts trennen die Jäger das Federkleid samt Haut mit Hilfe eines Kompressors vom Fleisch. Das geht schneller und ist billiger als das Rupfen von Hand. Aber die Haut selbst ist ja schon eine Delikatesse.
Csencsits löst nach einigen Tagen Abhängen die Rebhuhn-Brüste von der Karkasse, zerkleinert die Knochen, röstet sie und zieht daraus eine würzige Brühe. Diese schäumt er mit Schaf-Frischkäse auf und serviert das Ganze als Suppe. Hinreißend, die Mischung aus Wild- und Schafgeschmack, das Ineinander von Röstnoten und Cremigem, begleitet von einem Stück Zander. Man sitzt gefühlt im einsamsten Dorf des Burgenlands, wird dort aber hervorragend verköstigt.
Danach werden die ausgelösten Rebhuhn-Brüste mit Butter in der Pfanne gebraten. Sie garen noch kurz bei hoher Hitze im Ofenrohr nach, dem Rohr eines Holzofens, den die Großmutter des Patrons einst angeschafft hatte. Die Brüstchen kommen butterzart und saftig auf den Teller, schmecken mildwürzig nach Feld und Flur, umzogen von Brennnesselcreme, Belugalinsen und Spitzkohl. Weltklasse!
I m Norden des Burgenlands liegt der Neusiedler See, ein Steppensee auf österreichischem und ungarischem Staatsgebiet, mit breitem Schilfgürtel. Hier findet das Wildgeflügel einen artgerechten Lebensraum, zusätzlich geschützt vom Nationalpark am Ostufer. Die Region gibt sich angenehm sperrig gegenüber der andrängenden modernen Welt. Die Ufer sind ein idealer Ort für Zugvögel wie Stockente und Graugans, aber auch für die Wachtel. Ein Teil der Tiere verbringt das ganze Jahr dort und brütet auch. Wo der Boden trockener und bewaldet ist, da ist die Waldschnepfe oder standorttreues Wildgeflügel wie Rebhuhn und Fasan zu Hause.
Große Teile des Gebiets am Neusiedler See gehören zu den Esterházy-Stiftungen, die dem ökologischen Gedanken in Landwirtschaft, Jagd und Fischerei verpflichtet sind. In Zusammenarbeit mit Naturschutzverbänden rekultiviert man besonders die Lebensräume von Rebhuhn und Fasan, indem man riesige Äcker wieder unterteilt, Hecken pflanzt und Begleitstreifen anlegt mit Pflanzenvielfalt, Sämereien und Insekten. Die Bestände von Rebhuhn und Fasan vermehren sich langsam wieder und werden behutsam bejagt.
Im „Gut Purbach“ in Purbach am Neusiedler See sitzt der Gast in einem Vierseithof, der typisch ist für die Puszta-Region: außen weiß getüncht, kontrastiert durch ein rotes Ziegeldach. Da der heimische Gast traditionell die Martinsgans als Hausgans bevorzugt, hat es die Graugans als Wildgans – von der die Hausgans abstammt – nicht leicht im Restaurant, sagt der Küchenchef Max Stiegl. Doch er behilft sich mit einem Trick, der seit geraumer Zeit bei Feinschmeckern zieht: Er rückt nicht die herkömmlichen Edelteile wie Brust und Keule in den Vordergrund, sondern jene, die man nicht so gut kennt, die also die Neugier wecken: die Zunge der Graugans etwa, kombiniert mit Herz und Trüffel-Rahm-Soße, Pastinaken-Creme und Kartoffeln.
So entsteht eine wundersame kulinarische Welt, eine Anmutung von Luxus und Zartheit – sanft wie die Herbstnebel draußen am See. Die Zunge ist verführerisch glitschig wie eine Auster oder wie die gallertartigen Stücke eines Kalbskopfs. In der asiatischen Küche, in China oder in Japan, hat man von jeher Sinn für solch nachgiebige Konsistenz. In der europäischen Küche ist das noch neu oder muss erst wieder entdeckt werden. Zum Beispiel hier im „Gut Purbach“: Alles, was auf dem Teller liegt, geht am Gaumen hauchfein ineinander über – elastisches Gewebe, mineralisch-erdhafte Töne und Cremiges.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Magazin
Veröffentlicht: 25.12.2017 15:39 Uhr
