Restaurant „959“ in Heidelberg : Die Vollkommenheit des Rindergulaschs
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Das Gute soll nicht kompliziert sein: Im Restaurant „959“ wird mit den Regeln der klassischen Spitzengastronomie lustvoll gebrochen. Bild: Unikat / Elmar Witt
Spitzenküche ohne Spektakel: Tristan Brandt und Timo Steubing konzentrieren sich in ihrem Restaurant „959“ in Heidelberg so konsequent wie kategorisch auf das Wesentliche. Ist das der Weg der Haute Cuisine in die Zukunft? Die Kolumne Geschmackssache.
Kleine kurpfälzische Klischeekunde: Heidelberg ist die Stadt der Philosophen und Professoren, Heimat elaborierter Schönheit und ziselierten Feinsinns, stets nach höchsten Sphären und aristotelischer Vollkommenheit strebend. Mannheim ist die Stadt der Proletarier und Poser, schnörkellos, schmucklos und auch noch stolz darauf, kein Ort der Etikette und Zeremonien, sondern einer, an dem man gleich zur Sache kommt.
Alles Quatsch, wird Tristan Brandt entgegnen, der mit seiner Biographie die Klischees zumindest kulinarisch höchstpersönlich widerlegt: In seinem Restaurant „Opus V“ in Mannheim hat er sich 2016 mit einer hoch ambitionierten, aromenkomplexen, detailversessenen Haute Cuisine zwei Michelin-Sterne erkocht und vier Jahre lang gehalten, um dann ins Heidelberger Speiselokal „959“ zu wechseln, in dem er nun bar jeder Komplikationen-Ambition und Multi-Komponenten-Prätention eine Küche der Konzentration aufs Wesentliche ganz ohne Girlanden und Arabesken serviert – verkehrte Welt an Rhein und Neckar.
Ein vergoldeter Pizzaofen
Das „959“ ist allerdings ein Restaurant, das auch jedem PS-süchtigen Proleten-Poser aus Mannheim gefallen könnte, denn vornehme Zurückhaltung zählt hier nicht viel. Es glitzert und schillert und prunkt überall, sogar der Pizzaofen ist vergoldet, und an der haushohen Stirnseite fahren Hunderte von Schnapsflaschen in einem Paternoster spazieren. Die übrigen Wände sind mit Kunst von Markus Lüpertz und A. R. Penck aus der Privatsammlung des Eigentümers vollgehängt, eines Heidelberger Großunternehmers mit Hang zur High Society, dessen Geburtsmonat und Geburtsjahr dem Lokal seinen Namen gaben.
Seit Tristan Brandt hier Geschäftsführer ist und Timo Steubing vom Souschef zum Küchenchef befördert hat, brummt der Laden – dank eines Konzeptes, das wie ein Gegenentwurf zur klassischen Hochküche wirkt, obwohl beide Köche in ihr sozialisiert wurden, nicht etwa bei Hinz und Kunz, sondern bei Koryphäen wie Harald Wohlfahrt, Christian Bau und Thomas Kellermann: Die Küche ist durchgängig geöffnet, die Karte spannt den Bogen von Schnitzel und Gulasch bis zu Steinbutt und Stubenküken, langwierige Menüs werden prinzipiell nicht serviert.
Auch deswegen ist die Stimmung kein bisschen sakral, sondern so animiert wie in einem Gasthaus, und nur die enzyklopädische Weinauswahl inklusive burgundischer Raritäten zu Gebrauchtwagen-Flaschenpreisen verrät, dass man doch nicht in einer herkömmlichen Speisegaststätte sitzt.
Brandt und Steubing haben einen einfachen Anspruch: Sie wollen nur das Beste auf den Teller bringen und sich dabei alle Schnörkel, alle Verspieltheit, alle Ablenkung sparen. Deswegen kommt die Pizza aus einem Ofen des berühmten neapolitanischen Großmeisters Stefano Ferrara, zubereitet von einem original römischen Pizzabäcker, der den Fladen keine neunzig Sekunden lang in der Hitze lässt. Das Resultat ist ein Knusperkunstwerk, bei dem der Taleggio-Käse die Konsistenz einer Creme, nicht eines Kleisters hat, der Lardo trotz aller Dominanz nicht vorlaut wird und die Steinpilze noch immer nach frischem Waldboden duften, anstatt schlaff wie Dalí-Uhren auf dem Teig zu liegen.