Guide Michelin 2022 : Ein Rekord an Sternen
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Auf dem Gipfel der Kochkunst angelangt: Thomas Schanz aus Piesport an der Mosel gehört jetzt zu den 134 Drei-Sterne-Köchen weltweit. Bild: picture alliance/dpa
Der neue Michelin hat so viele Restaurants wie nie zuvor in Deutschland ausgezeichnet – trotz der Pandemie mit all ihren Fallstricken. Ein neues Drei-Sterne-Haus kommt hinzu, ein anderes verliert nach 17 Jahren den dritten Stern.
Die deutsche Spitzengastronomie hat heute allen Grund zum Feiern – außer ausgerechnet jener Koch, der so viel für sie getan hat wie kaum einer seiner Kollegen. 327 Lokale sind vom Restaurantführer Guide Michelin in seiner soeben in Hamburg vorgestellten Ausgabe für das Jahr 2022 mit Sternen ausgezeichnet worden, mehr als je zuvor. Die Zahl der Zwei-Sterne-Häuser ist um acht auf 46 gewachsen, die der Einsterner um 31 auf 272, während es bei neun Drei-Sterne-Lokalen geblieben ist.
Dahinter verbirgt sich allerdings ein Generationenwechsel, der für den Einen so schmerzhaft wie für den Anderen triumphal ist: Joachim Wissler vom „Vendôme“ in Bergisch-Gladbach, einer der Erfinder der neuen deutschen Küche und bis heute mit neunundfünfzig Jahren älteste Drei-Sterne-Koch im Land, hat seinen dritten Stern verloren, während der siebzehn Jahre jüngere Thomas Schanz vom gleichnamigen Restaurant in Piesport an der Mosel in die höchste Kategorie aufgewertet worden ist.
Im Osten nur zwei Sterne
Schanz hat sich nach lehrreichen Wanderjahren in der Traube Tonbach in Baiersbronn und bei den Drei-Sterne-Köchen Klaus Erfort in Saarbrücken und Helmut Thieltges in der Eifel 2011 mit einem eigenen Restaurant in seinem Heimatort selbständig gemacht und sich seither mit einer beeindruckenden Zielstrebigkeit Jahr für Jahr verbessert – ohne Sponsor oder Mäzen im Rücken, sondern in seinem Familienbetrieb ganz auf sich allein gestellt. Wäre er ein Fußballspieler und kein Koch, wäre sein Können mit jenem eines Lionel Messi vergleichbar, sagte Ralf Flinkenflügel, der Chefredakteur des Guide Michelin Deutschland, gegenüber der F.A.Z. Er koche auf Weltklasseniveau, sein Stil sei ausdrucksstark und finessenreich, mit seinem überragenden Talent bereite er den Gästen denkwürdige Erlebnisse.
Bei Wissler hat der Michelin nach den Worten von Flinkenflügel hingegen seit einigen Jahren ein kontinuierliches Sinken des Niveaus und eine Verzettelung des Küchenstils festgestellt, was schließlich zum Verlust des dritten Sternes geführt habe. Flinkenflügel lässt indes keinen Zweifel daran, wie sehr er das bedauert und wie dringend er sich eine baldige Rückkehr Wisslers in den Kreis der allerbesten deutschen Köche wünscht.
Diese erlauchte Tafelrunde bilden neben Schanz wie in den Vorjahren Torsten Michel („Schwarzwaldstube“, Baiersbronn), Claus-Peter Lumpp („Bareiss“, Baiersbronn), Christian Bau („Victor’s Fine Dining“, Perl), Marco Müller („Rutz“, Berlin), Kevin Fehling („The Table“, Hamburg), Christian Jürgens („Überfahrt“, Rottach-Egern), Clemens Rambichler („Waldhotel Sonnora“, Dreis) und Sven Elverfeld („Aqua“, Wolfsburg).
Von den acht neuen Lokalen mit zwei Sternen liegen allein drei in München, und alle drei Köche haben sich ihre Auszeichnungen nur wenige Monate nach ihrem Dienstantritt aus dem Stand erkocht: Tohru Nakamura in der „Schreiberei“, Anton Gschwendtner im „Atelier“ und Benjamin Chmura im „Tantris“. Die weiteren Neuzugänge bei den Zweisternern sind das „Essenz“ in Grassau, die „100/200 Kitchen“ in Hamburg, das „etz“ in Nürnberg, das „Louis“ in Saarlouis und die „Speisemeisterei“ in Stuttgart. Sie liegen ausnahmslos im Westen des Landes. Der Osten Deutschlands bleibt damit in der Spitzengastronomie weiter eine Diaspora – nur zwei Sterne hat der Guide Michelin 2022 in die neuen Länder vergeben, für das „Speiseberg“ in Halle und die „Alte Überfahrt“ in Werder an der Havel.
Sigi Schelling als exzellente Ausnahme
Ein Geschlechterdrama ist nach wie vor die geringe Präsenz von Frauen unter den Spitzenköchen. Sigi Schelling vom „Werneckhof“ in München, die sich auf Anhieb einen Stern erkocht hat, bestätigt als exzellente Ausnahme die Regel. Dafür kann man sich mit der Gewissheit trösten, dass die deutsche Spitzenküche vielfältiger denn je ist. Sie reicht von hervorragenden japanischen Restaurants mit einem Michelin-Stern wie dem „Masa Japanese Cuisine“ in Frankfurt über Häuser mit einer virtuos avantgardistischen Küche wie dem „Votum“ in Hannover bis zu Lokalen mit einem klassisch-regionalen Stil wie dem „Schwarzen Hahn“ in Deidesheim.
Eine schöne und für jeden Feinschmecker beruhigende Paradoxie hat ausgerechnet die Pandemie an den Tag gebracht: Sie ist nicht zum Totengräber der Spitzengastronomie geworden, sondern zu einer Art Jungbrunnen, obwohl die Lokale monatelang geschlossen waren. Viele Köche hätten die Zeit der Lockdowns genutzt, um ihre Küchenstile zu überdenken und sich auch aufgrund des Personalmangels von überflüssigen Elementen auf den Tellern zu verabschieden, sagt Ralf Flinkenflügel. Jetzt werde weniger technisch, dafür gradliniger und konzentrierter gekocht, und die Gäste hätten mehr Lust denn je auf exzellente Küche, füllten die Restaurants oft bis auf den letzten Platz und gäben bereitwillig viel Geld für dieses Vergnügen aus. Das ist eine Erkenntnis, die Hoffnung macht. Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass sich die Erde noch eine Weile weiterdreht.