Ernährung in Krisenzeiten : Essen ist nicht mehr das, was es mal war
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Vom „Comeback der Ravioli“ spricht der Lebensmittelverband. Bild: Andreas Pein
Konserven, Brotbackmischungen und Hefe: Im Lockdown sorgten Mahlzeiten für gute Gefühle, Halt und Struktur im Alltag. Über die neuen Funktionen selbstgekochter Nudeln.
Das erste der Fotos zeigt eine Rührschüssel, ein Waffeleisen und einen Topf mit Kirschen auf dem Herd. Das zweite einen Teller mit einem enormen Stapel Waffeln. Das dritte dann das Gebäck, leicht linkisch angerichtet mit heißem Kompott und Sahne. „Zum zweiten Frühstück eine Waffelorgie“, erläutert der Tweet, gepostet um 9.18 Uhr.
Er habe zwei kleine Kinder, erzählt Daniel Kofahl am Telefon dazu, und versichert, früh um halb sechs hätten sie schon ein Beeren-Körner-Müsli gegessen. Die Waffeln waren ein Symptom der Extremsituation: die Kita zu, die Frau als Ärztin im Krankenhaus.
Kofahl ist Ernährungssoziologe und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Kulinarische Ethnologie“. Ihn interessiert sonst, was unsere Esskultur über unsere Gesellschaft aussagt, wie Lebensmittelampeln Genussgefühle bedrohen, wie sich Ernährung zu Zeiten des Klimawandels verändert. Seit die Covid-19-Pandemie im März in Deutschland angekommen ist, steckt er als teilnehmender Beobachter selbst mitten in der Feldforschung. Und demonstriert zugleich mit seinem Tweet, was einen Teil des Krisenfutterns derzeit ausmacht: Die Waffeln am Morgen sind eine Ausnahme. Ein Wohlfühlessen. „In der Krise muss erst eine eigene Krisenkultur entstehen“, sagt Kofahl. Dazu gehörten auch Mahlzeiten, die nicht nur nach strengen Ernährungsregeln gesund sind, sondern auch „der seelischen Gesundheit guttun“.
Was haben wir eigentlich gegessen?
Es klingt manchmal, als ob seit März neben den täglichen Covid-19-Infektionszahlen und Schutzmaßnahmendetails vor allem unser Essen im Fokus steht: Was kochen und wie, was gibt’s im Supermarkt und wie lange noch? Die Google-Statistik bestätigt den Eindruck: „Kochen“, „Supermärkte“, „Lebensmittel“, „Backen“ und, klar, „Hefe“, all diese Suchbegriffe schießen in der Tabelle ab der ersten Märzwoche nach oben. Bei „Restaurant“ rutscht die Kurve tief nach unten.
Auf einmal war die Rede von leeren Supermarktregalen. Viele begannen zu überlegen, wie die Lieferketten im Lebensmittelhandel eigentlich genau funktionieren, wann sie am besten einkaufen, um das Schlangestehen zu vermeiden, und wann sie lieber Menschen Raum lassen, die zu Risikogruppen gehören oder in Krankenhäusern schuften. Andere entschlossen sich, wie ein Drittel hierzulande, Lebensmittel gleich online zu kaufen. Sie debattierten darüber, unter welchen Bedingungen Saisonkräfte aus anderen Ländern oder Menschen in der Fleischindustrie arbeiten. Und wie lange, zur Hölle, sie weiter jeden Tag kochen müssen für die Familie. Oder, Hilfe, sogar zweimal.
„Der Mensch ist, was er isst“ – eine meist dem Philosophen Ludwig Feuerbach am Ende des 19. Jahrhunderts zugeschriebene Formulierung – ist heute eher ein Ladenhüter unter den Aphorismen. Trotzdem: Was wir uns wie einverleiben, verändert uns. Um also zu verstehen, was das aktuelle Krisenfuttern mit uns macht, haben wir herumgefragt. Bei Ernährungssoziologen wie Kofahl und seiner Kollegin Jana Rückert-John, beim Philosophen Harald Lemke, der sich als „Gastrosoph“ versteht, bei der Trendforscherin Hanni Rützler, die wie jedes Jahr mit ihrem aktuellen „Food Report“ überlegt, was kommt, was bleibt, was geht, und bei Christoph Minhoff, dem Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands.