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Reste-Restaurant in Berlin : Die Allesverwerter

Zu Essen gibt es, was die Lieferung hergibt. Heute: Salatvariation Bild: Jens Gyarmaty

In Berlin hat das erste Reste-Restaurant Deutschlands eröffnet. Hier kommt auf den Teller, was andere eigentlich wegwerfen wollten.

          6 Min.

          Auf den ersten Blick sieht das „Restlos Glücklich“ so aus wie andere hippe Lokale in Berlin-Neukölln. Stühle und Tische wirken zusammengewürfelt, der Putz gibt den Blick auf Mauerwerk und Tapetenreste frei. Auf den Tischen stehen Forsythienzweige, die ein Blumenladen wegschmeißen wollte, weil sie schon aufgeblüht oder abgebrochen waren. Die Musik kommt vom Laptop. Samstagabend – und das erste Reste-Restaurant Deutschlands ist restlos ausgebucht.

          Julia Schaaf
          Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Das fünfjährige Mädchen an dem großen Tisch gleich am Eingang hätte am liebsten Pommes bestellt. Weil auf der Tafel an der Wand aber nur vier Gerichte stehen, hat die Mutter es zu einer „ganz leckeren Suppe“ überredet: Süßkartoffel-Ingwer. Jetzt sind die Vorspeisenteller leer, die Tochter malt. Wie es geschmeckt hat?

          „Nicht so gut“, sagt das Mädchen.

          „Der Ingwer war so ein bisschen stark“, sagt die Mutter. „Aber ich mag das.“ Dem Vater haben die frittierten Rübenbällchen im Salat gefallen. Und überhaupt: „Man schmeckt gar nicht, dass alles ein bisschen alt ist.“

          Zutaten vor dem Müll gerettet

          Alt? Das Restaurantteam würde sagen: gerettet. Mehr als neunzig Prozent der Zutaten, die an diesem Abend auf den Tisch kommen, waren eigentlich für den Müll bestimmt – wegen eines abgelaufenen Verfallsdatums, einer gammeligen Stelle oder aus anderen Gründen, die Lebensmittel für den Handel unverkäuflich machen. Es gibt viele Initiativen, die gegen diese Art von Verschwendung antreten. Der Verein „Restlos Glücklich“ will erstmals in Deutschland zeigen, dass man mit vermeintlicher Wegwerfware sogar ein richtiges Restaurant betreiben kann.

          Im vergangenen Herbst hat der kleine Trupp aus Freiwilligen einen Koch engagiert und angefangen, im Rahmen von Caterings, Messen und Gastro-Events zu kochen. Seit April gibt es mit den Räumen eines ehemaligen italienischen Restaurants in Neukölln endlich die geeignete Location. Noch läuft eine Art Testbetrieb. Im Juni soll endgültig eröffnet werden.

          Nun funktioniert Gastronomie normalerweise so: Der Koch denkt sich aus, welche Gerichte es geben soll. Dann werden die Zutaten dafür in entsprechender Menge möglichst frisch eingekauft. Wenn man am Freitagmittag – einen Tag bevor die Familie im „Restlos Glücklich“ essen wird – nach der Speisekarte fragt, fährt Daniel Roick sich mit der Hand über sein kurzes Haar. Der Koch des Reste-Restaurants sagt: „Ich hänge hinterher. Den Hauptgang weiß ich noch nicht.“

          Zufallsmix führt zu „kreativen Menüs“

          Neben der Theke steht eine große Kiste mit unterschiedlichen Brotsorten. In der Küche stapeln sich drei Stiegen abgepackte Heidelbeeren, Paletten mit Rucola, zwei Pappkästen voller Ingwer. Broccoli, dunkel und knackig, diverse Sorten Salat, Plastikschälchen mit Cocktailtomaten. Massenweise Süßkartoffeln. Staudensellerie. Mangold. Die halbierten Papayas haben unter ihrer Klarsichtfolie braune Stellen. Ein paar Kräuter hängen schlaff aus ihren Töpfen.

          Eigentlich sollte es in den Müll, nun liegt es in der Kiste in der Küche.
          Eigentlich sollte es in den Müll, nun liegt es in der Kiste in der Küche. : Bild: Jens Gyarmaty

          Aus diesem Zufallsmix, dessen Bestandteile und Mengen sich allein danach richten, was die Partnerbetriebe der Initiative – insbesondere ein Bio-Supermarkt und ein Bio-Großhändler – an diesem Morgen wegwerfen wollten, soll Koch Roick ein dreigängiges Menü für das Wochenende kreieren. Zwei Vorspeisen und den Nachtisch hat er schon auf seinem Klemmbrett notiert: Bunte Salatvariation mit Rübenbällchen, gegrilltem Gemüse, gerösteten Brotwürfeln und Papayastreifen mit Heidelbeervinaigrette. Süßkartoffelsuppe mit Ingwer und Kräuterbrotchips. Heidelbeerkuchen mit Granatapfelsahne. „Der Anspruch, alles zu verwerten, führt zu sehr kreativen Menüs“, sagt der Siebenundzwanzigjährige. Im Prinzip, findet er, ließen sich alle Produkte miteinander kombinieren: „Man muss es nur gut machen.“

          „Was wir uns ausdenken, muss klappen“

          Jetzt denkt er über den Hauptgang nach. Gebackenen Broccoli. Kartoffelgratin. Weil sich Brot nur frisch verkaufen lässt und deshalb immer in großen Mengen anfällt, hat „Restlos Glücklich“ gute Erfahrungen mit „Pattys“ gemacht, Gemüsebratlingen mit hohem Brotanteil. Da es die aber schon am Wochenende vorher gab, hat Roick den Ehrgeiz, etwas Neues zu erfinden: Saitan vielleicht, oder Tofu – den müsste man allerdings zukaufen.

          Zwischen den anderen Mitgliedern der Initiative entspinnt sich eine kurze Diskussion: Ob das überhaupt nötig sei, wendet eine junge Betriebswirtin ein, Gratin mit Gemüse sei doch auch schon ein leckeres, vollwertiges Essen. „Ich würde sagen, man braucht’s. Schließlich sind wir ein Restaurant und kein Mittagsimbiss“, sagt der Bauingenieur, der an diesem Abend ehrenamtlich die Restaurantleitung macht. Der Koch, einziger Profi im Team, gibt ihm recht: „Es muss auch eine Hauptkomponente da sein.“

          Dann fängt Roick an, die Cocktailtomaten zu waschen, die er, wie er kurzerhand beschlossen hat, konfieren will, also bei niedriger Temperatur in Öl im Ofen garziehen lassen. Schnell füllt sich das Sieb in der Spüle, aber auch der Boden des Mülleimers ist bald rot bedeckt. Die Arbeit mit geretteten Lebensmitteln ist aufwendiger, weil Verdorbenes aussortiert oder weggeschnitten werden muss. Wie sich im Lauf des Nachmittags zeigen wird, ist etwa der Rucola nicht mehr zu gebrauchen. In solchen Fällen muss Roick sein Menü manchmal in der letzten Minute anpassen. Experimente sind angesichts des Zeitdrucks tabu: „Was wir uns ausdenken, muss klappen.“

          Alle Küchenhelfer sind Laien

          Nebenbei leitet der Koch sein Personal an. Er erklärt einer Frau mittleren Alters, die zum Kernteam von „Restlos Glücklich“ gehört, dass die geschälten Kartoffeln in einen Topf mit Wasser gehören, um sich nicht zu verfärben. Einem Sechzigjährigen zeigt er, wie die im Ofen gerösteten Brotscheiben mit einem Öl beträufelt werden, für das er bei anderer Gelegenheit übrig gebliebene Petersilie püriert hat. Alle Küchenhelfer sind – wie das Service- und Thekenpersonal – Laien, Leute ohne Vorkenntnisse, mit Überzeugung und ohne Bezahlung dabei.

          Der Sechzigjährige zum Beispiel hatte kurz zuvor im Radio gehört, dass „Restlos Glücklich“ Unterstützer sucht. Daraufhin hat er die erforderliche Hygieneschulung beim Gesundheitsamt besucht. Und schon bei seinem ersten Einsatz wirkt es, als gehöre er zum Team. Roick sagt: „Den cholerischen Küchenchef gibt’s hier nicht. Wenn man mit Freiwilligen arbeitet, muss alles freundschaftlicher abgehen.“

          Der Macher: Koch Daniel Roick
          Der Macher: Koch Daniel Roick : Bild: Jens Gyarmaty

          Auf dem Kragen der Kochjacke, die ihm das Team geschenkt hat, steht „Rockchef“. Roick ist einer, der bei der Arbeit Musik von der Band Ton Steine Scherben hört und an der Basecap einen Antifa-Button trägt. Er schmückt sich mit einem Lippenpiercing, einem Dehnungsring und einem Tunnel in den Ohrläppchen. Mit 16 Jahren hat er in Cottbus seine Ausbildung begonnen und anschließend in einem Restaurant für experimentell-moderne deutsche Küche sowie als Showkoch gearbeitet. Aber ohne „Restlos Glücklich“ hätte er seinen Traumberuf womöglich an den Nagel gehängt: zu viel Stress, und trotzdem undankbare Gäste.

          Sein neuer Job hingegen, die Verbindung von Kreativität und Autonomie in einem netten Team, macht ihm sichtlich Spaß. Eben noch hat er einen Hügel Ingwerwürfel geschnitten und mit dem neuen Helfer geplaudert, jetzt beugt er sich über sein Klemmbrett mit der handgeschriebenen Speisefolge und streicht die Süßkartoffelsuppe durch. „Ich denk’ mal, ich werde den Mangold noch in den Hauptgang einbauen“, sagt er.

          Alle Gewinne fließen in Bildungsprojekte

          Einen Abend später, am Samstag, sitzt Leoni Beckmann an der Bar. Die 28 Jahre alte Sozialwissenschaftlerin, die als Bildungsmanagerin Vollzeit arbeitet, gehört zu den Gründungsmitgliedern der Initiative und ist Vorsitzende des Vereins. Eine Bekannte hatte im Herbst 2014 von dem Kopenhagener Reste-Restaurant „Rub & Stub“ gehört, kurz darauf organisierte man sich zu dritt eine Art Gründungsstipendium für innovative Start-ups.

          Als „Restlos Glücklich“ vergangenen Sommer eine Crowdfunding-Initiative startete und 25.000 Euro Spenden einwarb, weil man bewusst auf Investoren verzichten wollte, war das Team schon zu acht. Von Anfang an sei klar gewesen, sagt Beckmann, dass alle Gewinne in Bildungsprojekte fließen sollten: Kochkurse für Kinder zum Beispiel oder Aufklärung über Lebensmittelverschwendung an Schulen. Für den Restaurantbetrieb wird gerade eine Firma gegründet.

          Dann sollen neben dem Koch auch zwei der Teammitglieder Teilzeitstellen bekommen, als Restaurantleitung und für die Geschäftsführung. Der Verein bleibt organisiert wie bisher: wöchentliche Sitzungen, basisdemokratische Entscheidungen. Die Mischung aus Idealismus, Engagement und Professionalität ist so sympathisch wie eindrucksvoll. Längst hat die Initiative eine Fangemeinde im Netz.

          Dann legt Beckmann einen Zettel mit einem Diagramm auf den Tresen und zeigt mit dem Finger auf den längsten Balken ganz unten: eine nicht ganz unumstrittene Studie des World Wildlife Fund, die davon ausgeht, dass in Deutschland jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden. Privathaushalte haben daran einen großen Anteil. Von 7,2 Millionen Tonnen häuslichem Essensmüll sollen 4,9 Millionen vermeidbar sein. „Das ist der Punkt, wo wir ansetzen“, sagt Beckmann. „Wir möchten unsere Gäste quasi kulinarisch zum Umdenken über ihr eigenes Essverhalten animieren.“

          Aus Vorhandenem ein leckeres Essen zu zaubern

          Wer nach einem Dinner im „Restlos Glücklich“ einen Joghurt im Kühlschrank finde, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten sei, werfe diesen hoffentlich nicht mehr weg, ohne vorher zu prüfen, ob er nicht doch völlig in Ordnung sei. Und die Kunst der Resteküche à la Daniel Roick sei im Prinzip nichts anderes als das, was schon die eigenen Großeltern gekonnt hätten: nämlich einfach aus Vorhandenem ein leckeres Essen zu zaubern.

          Für den Samstagabend hat der Koch den Tofu nicht nur mit Süßkartoffeln, Brot und ein bisschen Papaya verknetet, sondern tatsächlich auch eine Verwendung für den Mangold erfunden. „Tofu-Mangold-Röllchen mit Gemüsejus, gegrilltem Brokkoli, konfierten Tomaten und Kartoffelgratin“, steht auf der Karte. Elf Euro kostet der Hauptgang, Suppe fünf, Salat sechs, die Heidelbeerschnitte – diesmal mit Sojasahne – vier. Das ganze Menü gibt es für 19 Euro.

          Warmes Licht, entspanntes Stimmensurren: An den Tischen sitzen sowohl perfekt gestylte Beraterinnen als auch Frauen in unauffälligem Allzwecklook, Studenten, zwei binationale Paare, weißhaarige Damen. Die Familie mit der fünfjährigen Tochter, die das Menü bestellt hatte, ist im Aufbruch. Das Gratin und der Heidelbeerkuchen haben am Ende sogar dem kleinen Mädchen geschmeckt.

          In der Abenddämmerung steht Daniel Roick auf der Straße und zündet sich mit seinem Crème-brûlée-Brenner eine Zigarette an. Er wirkt zufrieden. Nur was er mit anderthalb Pappkästen Ingwer machen soll, weiß er immer noch nicht.

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