Michael Pollan im Interview : „Die Mahlzeit ist das Bollwerk gegen die Verwilderung“
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„Etwas sehr Bedeutsames geschieht, wenn Menschen aus demselben Topf essen“: Tisch einer Gruppe von Mainzern, die sich über eine Facebook-Seite verabredet haben Bild: Gilli, Franziska
Michael Pollan ist der Guru der „Wie esse ich richtig“-Bewegung in Amerika. Mit uns sprach er über Kochen und Zauberei, Feuer und Zivilisation – und den Versuch, seinem Sohn die McNuggets abzugewöhnen.
Mr. Pollan, Sie haben dicke und schmale Bücher über gesunde und ethische Ernährung geschrieben, das Magazin „New York“ nennt Sie „eine Art Hohepriester des Essens“. Wenn die Leute Sie fragen, was soll ich essen, was antworten Sie? Gibt es da eine goldene, elementare Regel?
Ja, diese: Essen Sie echte Lebensmittel, nicht zu viel, vorwiegend Pflanzen. In diesen neun Worten konzentriert sich alles, was ich gelernt habe. Die Worte klingen ganz einfach, aber es ist sehr schwer, sich daran zu halten. Zum Beispiel: „Essen Sie Lebensmittel“ - alles sieht aus wie Lebensmittel, aber das täuscht. Denn es gibt da die echten Lebensmittel, und dann gibt es dieses andere Zeugs, Produkte der modernen Lebensmitteltechnik, die wir nicht mit diesem Wort ehren sollten; ich nenne sie essbare lebensmittelähnliche Substanzen. Diese beiden Dinge voneinander zu unterscheiden ist die eine Schwierigkeit.
Und die andere?
Das „Essen Sie nicht zu viel“. Die Menschen haben Schwierigkeiten, ihren Appetit zu regulieren. Das liegt zum Teil an unserer Kultur - und am Marketing der Lebensmittelindustrie. Die verdient ihr Geld damit, dass wir mehr essen. Sie tut das zum einen, indem sie die Leute mit Hilfe der Lebensmitteltechnik manipuliert, durch den Einsatz von Salz, Fett, Zucker und dergleichen; zum anderen mit größeren Portionen.
Nachdem ich Ihr jüngstes Buch gelesen habe, hätte ich gedacht, Sie hätten eine noch einfachere, kürzere Regel für all die, die wissen wollen, wie sie gesund essen, nämlich: „Kochen Sie.“
Ja. Die entscheidende Erkenntnis lautet: „Essen Sie echte Lebensmittel, nicht zu viel, vorwiegend Pflanzen.“ Und was müssen Sie tun, um das zu erreichen? Kochen. Denn wenn das meiste dessen, was Sie essen, von einem Menschen gekocht wird, wird es in der Regel gesünder sein, und Sie werden es wahrscheinlich bei einer Mahlzeit im Kreis anderer Leute essen. Wenn Sie selbst kochen, essen Sie auch weniger Junkfood, weil Junkfood zu Hause schwer zu machen ist.
In dem Buch, einer Art Geschichte des Kochens, werden Sie beinahe philosophisch, wenn Sie davon sprechen. Wo liegt da der Reiz?
Ganz ähnlich wie beim Gärtnern: Beides sind Wege, sich mit der Natur auseinanderzusetzen. Wenn man kocht, wird man daran erinnert, dass Essen nicht aus einer Fabrik kommt, sondern aus der Natur. Kochen ist, wie Gärtnern auch, eine Kunst der Verwandlung. Die Vorstellung, Samen zu nehmen und daraus eine Tomate oder eine Melone zu machen - das ist Alchemie. Wir sind alle in der Küche wie Zauberer, auch wenn es so gewöhnlich aussieht.
Sind Sie auch deshalb vom Kochen so eingenommen, weil es uns erst menschlich macht, wie Sie schreiben?
Ja, die Erfindung des Kochens war der Wendepunkt. Vorher ist der Mensch vor allem für sich; er isst, was er gerade findet. Vielleicht bringt er der Gruppe etwas mit - vielleicht auch nicht. Sobald er aber mit Feuer kocht, muss jemand darauf aufpassen, jemand muss das Fleisch zerlegen, jemand muss den ganzen Vorgang beaufsichtigen. Es ist ein kooperativer Vorgang. Sobald man kocht, fängt man auch mit Mahlzeiten an; diese Institution wird am Feuer geboren. Die Mahlzeit zivilisiert uns; wir sind gezwungen zu teilen, zusammenzuarbeiten. Mit den Mahlzeiten gibt es auch Regeln, die Prototypen der Umgangsformen, weil sich sonst der Stärkste alles nimmt. Diese Regulierung des Essens geben wir heute allmählich wieder auf, weil wir wieder häufiger alleine essen, den Snack nebenher, unterwegs an der Tankstelle, am Arbeitsplatz.
Indem wir ständig essen, wann immer wir auf Essen stoßen - und anders als in der Welt unserer Vorfahren ist das Essen heute allgegenwärtig -, entwickeln wir uns in gewisser Weise zurück.
Ja, zu primitiven Formen, zu einer Art moderner Jäger und Sammler - vor allem Sammler. (lacht) Der gedankenlose Esser, der Vor-dem-Fernsehen-Esser ist ein primitiver Esser. Man muss verstehen: Die gemeinsame Mahlzeit dient nicht der Lebensmittelindustrie. Die würde ihre Produkte am liebsten jedem einzelnen Esser einzeln verkaufen. Dann kaufen und essen wir nämlich mehr. Wenn Sie im Laden schauen: Die Mikrowellengerichte sind nicht für vier oder sechs, sondern fast immer für nur eine Person. In Amerika gibt es gerade eine Werbekampagne von Taco Bell: die Einführung der vierten Mahlzeit am Tag. Drei sind nicht genug. Sie sollen um 11 Uhr nachts noch mal essen.