Spirituosen : Mehr Mut zum Wermut
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Bei dem Hamburger Barkeeper Jörg Meyer wächst die Nachfrage nach Aperitif-Weinen. Bild: Henning Bode
Einst war er Italiens Lieblingsaperitif, dann wurde er als Arme-Leute-Getränk verschmäht. Nun erlebt der gute alte Wermut ein erstaunliches Comeback.
Matthias Tschorn ist verrückt, sortimentsverrückt, wie er sagt. Was er damit meint, ist in seinem Edeka-Markt in Lüneburg nicht zu übersehen. Auf 1400 Quadratmetern türmt sich Feinkost aller Art. Käse, Wurst, Fisch, Obst, Gemüse, Gebäck, Süßwaren, Gewürze, Wein – einfach alles. Die Auswahl in der „Sandpassage“ im Zentrum der Heidestadt vor den Toren Hamburgs ist atemraubend. Vor allem bei den Spirituosen: Allein 400 Sorten Whisky hat Tschorn zusammengetragen. 160 Gins hat er im Angebot, Dutzende unterschiedliche Arten Rum, Sherry, Port. Und jetzt auch Wermut. Auf gut 40 Sorten hat der Neunundvierzigjährige die Auswahl ausgebaut. Nur das schöne Regal, das er vor ein paar Wochen aufgebaut hat, ist schon wieder verschwunden. Es musste dem Weihnachtssortiment weichen. Die Flaschen stehen jetzt neben den Whiskys auf Konsolen über den Tiefkühltruhen.
Wermut ist der nächste Trend, meint Tschorn. „Wenn ich es Ihnen doch sage!“ In Barcelona und auf Mallorca hätten die ersten angesagten Bars, die vor einem Jahr noch auf Gin-Tonic gesetzt hätten, schon umgeschwenkt. „Die Wermut-Welle rollt.“ Das haben dem umtriebigen Einzelhändler Freunde aus Spanien schon vor ein paar Monaten berichtet. Weil er immer auf der Suche nach Neuem sei, habe er sich auf das Thema gestürzt. „Und jetzt merken die Kunden langsam, dass Wermut ein großartiger Drink sein kann.“
Von Ägyptern und Römern geschätzt
Im Grunde ist das neue Trendgetränk nichts weiter als gewürzter Wein, in der Urversion ein mit zusätzlichem Alkohol und Kräuterextrakten versetzter Weißwein. Alle möglichen Zutaten kommen dabei zum Einsatz: Gewürznelken, Zimt, Anis, Enzian, Koriander, Kardamom, Pomeranzen, Zitronenund Orangenschalen – vor allem aber das Wermutkraut Artemisia absinthium, das dem Ganzen seinen Namen gegeben hat. Das krautige Gewächs, in gemäßigten Klimazonen anzutreffen, ist seit Jahrhunderten für seine medizinische Wirkung bekannt. Schon die Ägypter und Römer kannten es. Hildegard von Bingen hat das Kraut in Tees und Tinkturen verwendet und damit Leberleiden, Menstruationsbeschwerden und Schwermut gelindert.
Ursächlich für die Wirkung ist das Nervengift Thujon, das im Öl der Pflanze enthalten ist und einst den Absinth in Verruf gebracht hat. Denn auch diese französische Spirituose enthält neben anderen Zutaten vor allem Extrakte des Wermutkrauts – und wird wegen dessen starker Bitterkeit meist mit viel Zucker versetzt.
Aperitif für die Aristokratie
Klassischer Wermut hat einen viel geringeren Alkoholgehalt als Absinth, 15 bis 18 Prozent. Aber auch ihm wird Zucker beigegeben, um die Bitterkeit der Kräuterextrakte auszugleichen. Die ersten dieser Gewürzweine sollen im 16. Jahrhundert in Deutschland und im Piemont in Norditalien hergestellt worden sein. Als Aperitif populär wurde der Wermut aber erst durch den Turiner Destillateur Antonio Benedetto Carpano, der 1786 begann, seinen bittersüßen „Carpano Vermouth“ auf der Basis von Moscato-Wein unter die Leute zu bringen – und damit vor allem die Aristokratie begeisterte.
Schnell rief der enorme Erfolg weitere Produzenten rund um Turin auf den Plan, von denen manche noch heute zu den bekannten Wermuthäusern gehören: etwa Cinzano, Martini & Rossi, Bosca und Contratto. In Frankreich stellten Joseph Noilly und Claudius Prat 1813 die erste trockene Würzwein-Version vor. Mit der zunehmenden Zahl der Produzenten wurde auch die aromatische Palette breiter, jeder Hersteller verwendete sein eigenes, geheimes Rezept, und bald wurden neben weißen auch rote Grundweine für den Wermut entdeckt. Als Aperitif trat der Wermut seinen Siegeszug um die Welt an, wurde zum festen Bestandteil zahlreicher Cocktails und hielt auch Einzug in die feine Küche, in der er als Aromengeber heute noch beliebt ist. Sterneköche und Feinschmecker runden Suppen und Saucen besonders mit dem tiefwürzigen französischen Noilly Prat ab oder tröpfeln ihn über Fischfilets und Austern.
Aus der Mode kam der Wermut erst in den Sechzigern. Immer mehr minderwertige Billig-Versionen, mit Pulvermischungen künstlich aromatisiert, verdarben seinen Ruf und machten ihn zum Lieblingsgetränk der sprichwörtlichen Wermut-Brüder. Erst die Qualitätsrevolution im Weinbau in den späten Achtzigern und jüngst die Craft-Bewegung, die bei vielen unterschiedlichen Lebens- und Genussmitteln einen Kontrapunkt zur Industrieproduktion setzt und sich auf Produkte besinnt, die in kleinen Mengen und handwerklich hergestellt sind, haben auch dem Wermut eine zweite Chance gegeben.