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Lost In Time

Text von BERND STEINLE, Fotos von HERIBERT NIEHUES

9. Mai 2020 · Der Fotograf Heribert Niehues zeigt verlorene Orte im amerikanischen Herzland. Es sind Bilder einer untergehenden Welt.

Amerika, man vergisst das leicht in den Tagen von Donald Trump, kann auch ein Land der Stille sein. Der Fotograf Heribert Niehues hat solche Orte der Stille gesucht, und er ist vor allem im Herzland der Vereinigten Staaten fündig geworden, in den Bundesstaaten des Mittleren Westens: North Dakota, South Dakota, Nebraska, Utah, New Mexico. Den Ort, der ihn dabei am meisten beeindruckte, will er für sich behalten, was aber nichts mit Geheimniskrämerei zu tun habe, beteuert er, sondern mit einem Versprechen. „Die drei Bewohner des Orts haben mich gebeten, ihn nicht zu nennen. Sie befürchten, dass es sonst einen Run darauf gibt.“ Nur so viel: Er liegt im Norden des Bundesstaats Montana.


„Manchmal kommt man in Gebäude, in denen noch so viele persönliche Dinge da sind.“
HERIBERT NIEHUES

„Poesie der Vergänglichkeit“ heißt der Band, in dem Niehues Spuren der Vergangenheit eines Landes zeigt, das sich immer durch Mobilität definiert hat – auch wenn das bedeutete, von einem Moment auf den anderen alles hinter sich zu lassen und anderswo neu anzufangen. Niehues hat die lost places dieser mobilen Nation festgehalten: Autowracks, Tankstellen, Motels, Diner, Farmhäuser. Relikte eines vergessenen, dem Verfall preisgegebenen Amerikas, das sich selbst überholt hat: ausgeschlachtete Oldtimer, die neben den Skeletten verrosteter Zapfsäulen verwittern; windschiefe Holzhäuser, die in der Prärie ihrem Zusammenbruch entgegendämmern; aufgegebene Rasthäuser, auf deren Werbeschildern grinsende Cowboys noch „Sizzlin Steaks“ verheißen, obwohl die Türen längst verrammelt und die Fensterscheiben blind sind. Niehues hat auch die Geschichten hinter diesen Orten rekonstruiert, sie handeln von Landflucht, Strukturwandel in der Landwirtschaft und den veränderten Fortbewegungsarten der Amerikaner, durch die Roadside-Diners und Tankstellen vom Verkehr abgeschnitten wurden. Gelegentlich glaubt man, zerfallende Freilichtmuseen zu sehen, die seit Jahrzehnten vergeblich auf Besucher warten. Es sind Bilder voller Nostalgie, Melancholie, Anarchie. „Manchmal kommt man in Gebäude, in denen noch so viele persönliche Dinge da sind“, sagt Niehues. „Man sieht Briefe, Karten, Weihnachtsglückwünsche, private Fotos und Fotoalben. Man spürt, dass da ganze Schicksale dranhängen.“

Niehues spürte diesen verlorenen Staaten von Amerika im Internet nach, als zielführender aber erwies sich oft, einfach auf gut Glück in eine Country Road einzubiegen. Einmal begegnete er einem Farmer, der ihn zu einer Scheune führte, die sich als „Schatzkiste“ voller Oldtimer entpuppte. Einmal überraschte ihn, als er in totaler Ruhe in einem Haus fotografierte, wildes Gepolter in der Küche – es war ein randalierendes Reh. Und einmal entdeckte er ein Nest von Klapperschlangen, das unter einem alten Cadillac verborgen lag. Sie mögen starr und leblos wirken, die Relikte auf Niehues‘ Bildern. In Wahrheit aber ist das Leben dort längst weitergegangen.  


Utha

Das Auto ist das Sinnbild für Mobilität in Amerika. In den fünfziger und sechziger Jahren brachten viele amerikanische Hersteller jährlich neue Modelle auf den Markt, und die wachsende Mittelklasse in der Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegsjahre war eine dankbare Klientel. Die alten Modelle entsorgte man in den Weiten des amerikanischen Westens der Einfachkeit halber hinter dem Haus, der nächste Schrottplatz war schließlich weit, und Platz gab es genug. So erging es auch diesem Pontiac Silver Streak von 1949, dessen ausgebauter Motor gleich nebenan die letzte Ruhe fand. Heute sind solche historischen Wracks gefragt, die Oldtimer-Branche boomt, wie der Auto-Fan Niehues weiß. „Für einen Restaurator ist so ein Auto in Top-Zustand, da kann man was draus machen.“ Niehues wollte den Pontiac später noch einmal fotografieren – da war er aber schon weg. „Diese Autos verschwinden inzwischen enorm schnell.“ 


Kalifornien

„Lo-Gas“ und „Eat“, günstiges Benzin und Essen: Was will der Autofahrer mehr? Die augenfälligen Argumente für einen Stopp an der Tankstelle mit Restaurant nahe dem Interstate Highway 15 überzeugten aber trotzdem nicht – der Ort Halloran Springs, in dem das Rasthaus steht, ist mittlerweile eine Geisterstadt, leer, verlassen, unbewohnt. Der Abschnitt des Interstate Highway dort gilt als besonders unfallträchtig, vor allem in den Nächten von Sonntag auf Montag, wenn viele Kasinobesucher auf dem Rückweg von Las Vegas nach Kalifornien sind – überreizt, übermüdet oder überfordert von den Eindrücken und Erlebnissen des Wochenendes. „Früher konnte man dort wenigstens noch einen Kaffee trinken“, sagt Niehues. „Das hat aber wohl nicht ausgereicht, um den Laden am Leben zu halten.“  


Wyoming

Der Schriftzug auf dem verwitterten Schild über der Eingangstür ist kaum noch zu entziffern: „Daniel Station“ steht dort. Daniel ist eine Siedlung im Herzen des Bundesstaats Wyoming, bei der Volkszählung 2010 wurden hier 150 Einwohner verzeichnet. In den zwanziger Jahren hatte man im bevölkerungsärmsten amerikanischen Bundesstaat ganz auf den Ausbau der Infrastruktur gesetzt, neben Straßen und Brücken entstanden Hotels, Restaurants und Tankstellen, um den Touristen etwa den Besuch des Yellowstone-Nationalparks zu erleichtern. Aus dieser Zeit stammt auch die im Westernstil errichtete „Daniel Station“ am US Highway 189. Inzwischen hat die Natur die Infrastruktur zurückerobert, das wuchernde Grün hat die Fassade der Tankstelle erreicht. Der Andrang scheint sich aber selbst zu besten Zeiten in Grenzen gehalten zu haben – offenbar reichte eine Zapfsäule, um alle Autofahrer mit Benzin zu versorgen.  


Arizona

Ein Motel mit Pool mitten in der Sonora-Wüste, das wirkt auf den ersten Blick nicht übel. Der zweite Blick aber offenbart Ernüchterndes. Dort, wo das knallrote Motel-Schild geradezu überschwänglich mit drei langen Pfeilen hinweist, während darunter gleichmäßig anrauschende Wellen auf der babyblauen Pool-Reklame sanft schaukelnde Entspannung verheißen, da sieht der gestresste Autofahrer: nichts. Oder besser: Er sieht einen beeindruckend gleichmäßig eingeebneten Platz vor dem reizvollen Hintergrund der Wüstenberge am Horizont. „Das Gebäude dort ist wohl abgerissen worden, aber es ist schon ungewöhnlich, dass man so einen Platz völlig räumt“, sagt Niehues. „Normal bleibt das einfach stehen.“ Weil es schlichtweg billiger ist so. „Vielleicht ist dort in Zukunft ja ein Neubau geplant.“ Vielleicht aber hatte das Abrisskommando auch einfach einen Sinn für Dramatik. Oder für Humor.  


Nebraska

Das Haus in der Nähe der Stadt Ord im Bundesstaat Nebraska barg skurrile Motive. Nicht nur das Rennrad unter der akkurat aufgehängten Krawattensammlung erstaunte Niehues, im gleichen Raum lag auch eine verblüffend gut erhaltene komplette Puppenfamilie auf der Lehne eines Sofas. Im Kleiderschrank hingen Cowboy-Jacken, in einer Schublade lag eine Perlenkette. „Warum nimmt man so was nicht mit?“, fragte sich der Besucher. Der Boden des Hauses war übersät mit Grassamen, die durchs offene Fenster aus der Prärie hereingeweht worden waren. In der Vorratskammer fanden sich Konserven, deren Haltbarkeitsdatum um Jahrzehnte überschritten war. Und dann war da noch der halb skelettierte Kadaver vermutlich eines Hunds in einem der Zimmer. „Das ganze Haus“, sagt Niehues, „war doch ein bisschen unheimlich.“  


New Mexico

Das ehemalige Farmhaus entdeckte Niehues außerhalb eines kleinen Orts im Bundesstaat New Mexico, auf freiem Feld. Als er am späten Nachmittag dort fotografierte, strömte von den Weiden ringsum eine Herde Rinder zu dem Haus. „Sie sind alle ins Bild gerannt, man sieht noch die vielen Kuhfladen im Vordergrund.“ Kurz darauf kam ein mexikanischer Arbeiter und begann die Tiere zu füttern. „Die Kühe wussten genau, wenn dieser Pick-up hier ankommt, gibt es was zu fressen“, sagt Niehues. Danach verschwanden die Tiere wieder, zogen zurück auf ihre Weiden. Ganz in der Nähe des alten Farmhauses hatte einst der Revolverheld Henry McCarty, auch als Billy the Kid bekannt, im sogenannten Lincoln-County-Rinderkrieg mitgemischt, der 1878 zwischen reichen Rinderzüchtern und örtlichen Geschäftsleuten entbrannt war. Vier Jahre später dann wurde Billy the Kid von Sheriff Pat Garrett erschossen. 

Foto: Verlag
Heribert Niehues
Poesie der Vergänglichkeit, Lost Places in den USA
Delius Klasing
49,90 Euro

Quelle: F.A.Z. Magazin

Veröffentlicht: 09.05.2020 08:35 Uhr