Traut euch! Kommt rein auf einen Cake!
Von CAROLINE HARO-GNÄNDINGER09.08.2018 · Sie heißen „Bicicletta“ oder „Willi“, bieten den Latte an zum Kauf von Rädern und Möbeln oder umgekehrt. Eine kleine Liebeserklärung an Ladencafés.
M artin Allmendinger drückt immer wieder den rechten Bremsgriff, dann justiert er die Bremse am Hinterrad. Er drückt und zieht mehrere Male, bis es passt. Allmendinger trägt Sportschuhe, kurze Hose und Markenpoloshirt, eine bunte Radsportkappe und eine Sonnenbrille. Über ihm hängt ein Kronleuchter von der Decke. Ein neuer Kunde kommt herein. Allmendinger wäscht sich die Hände und geht rüber an seine FaemaE61. „Einen Espresso?“
Er drückt wieder, dieses Mal das Kaffeepulver in den Siebträger, und schraubt das Ganze in die Maschine. Der Espresso fließt dunkelbraun und duftend in die Tasse. In der Kühlvitrine sind bunte Cupcakes neben Minikäsekuchen aufgereiht. In den Regalen stehen Kettenöl und Trinkflaschen sowie Bücher mit Titeln wie „Legends of Steel“.
Wir sind im „Caffé Bicicletta“ in Freiburg, in einer Stadt voller Fachwerk und idyllischer Bächle an den Straßenrändern. Das „Bicicletta“ liegt nahe der Innenstadt, im Stadtbezirk Mittelwiehre, wo die Decken in den Altbauwohnungen hoch sind und der Abstand von Yogazentrum zu Yogazentrum gering ist. Das Konzept, ein Geschäft mit einem Café zu kombinieren, wie es inzwischen landauf, landab geschieht, passt gut hierher. Es steht für Individualität und Kreativität – Begriffe, die in manchen Bevölkerungsschichten auf der Liste der wichtigen Dinge im Leben ziemlich weit oben stehen.
Vor dem „Bicicletta“ sitzt an diesem Freitagnachmittag ein Paar. Sie ist Grundschullehrerin, er ist Medienschaffender, sein Büro nicht weit entfernt. Alle zwei Tage seien sie hier. „Das Caffé ist wie ein zweites Wohnzimmer“, sagt sie und zieht an ihrer Zigarette. „Was man hier kaufen kann, ist nicht von der Stange.“ Für ihn ist die Kundschaft interessant: „Sportler, Künstler, Handwerker und Politiker sind hier, man kennt sich meistens und trinkt seinen Kaffee.“ Die Croissants könne er empfehlen, sie seien mit richtiger Butter hergestellt.
Tatsächlich scheint der größte Schatz des „Bicicletta“ der Sinn für Qualität zu sein. Allmendinger spricht beim Zubereiten seiner Getränke gern über die natürliche Süße seiner 3,5-prozentigen Sahne und über das Eis von einem Kirchzartner Bauernhof, das er in Bällchen in große hellblaue Cappuccinotassen bugsiert.
Damit lassen sich offensichtlich besonders Familien begeistern. Eine Familie aus dem Nachbarviertel zum Beispiel, die hier regelmäßig Zwischenstation auf dem Weg in die Stadt macht. Mit einem Eis in der Hand sitzen die Mutter und die zwei größeren Kinder jetzt selig vor dem Café unter der Markise, das kleinste schläft im geparkten Lastenrad daneben. Innen an der Theke steht ein Mann, den Allmendinger als „Sizilianer“ vorstellt. Er ist für ein paar Minuten hier, um Espresso zu trinken, und erzählt kurz von seinem Jugendrad, das einst sein Vater für ihn kaufte und das er jetzt bei Allmendinger restaurieren lassen will, für sein eigenes Kind.
Begonnen hat alles bei Allmendinger mit einem eigenen Radkurierdienst. Dann wollte er zweierlei verbessern: „Mich hat es immer geärgert, dass ich in Werkstätten nur bei kleinen Reparaturen zwei Wochen auf mein Rad warten musste.“ Also wollte er selbst schneller Platten beheben als die anderen – und er wollte verträglicheren Kaffee machen als die anderen.
Mit der Hilfe von Bekannten und Profis lernte er das Brühen, das Milchschäumen und das Reparieren von Rädern. „Eine Woche vor der Eröffnung hatte ich jeden Tag eine ganze Theke voller Tassen, bis ich die Milch gut aufschäumen konnte“, sagt er und lacht. Heute verkauft er übers Jahr ein paar italienische Rennräder mit Stahlrahmen zu Preisen im vierstelligen Bereich; ansonsten lohne sich am meisten die Gastronomie im Café für ihn.
Heutzutage finden viele Menschen, Arbeit solle mit Passion, einer wahren Leidenschaft, zusammenhängen. Unglücklicherweise ist das in der Realität nicht immer so – falls aber doch, fällt es dem Betrachter umso mehr ins Auge. Ich kenne das „Bicicletta“, weil mein Büro nicht weit davon entfernt liegt. Aber viele solcher Ladencafés wachsen in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden, und die Szene differenziert sich ständig.
Ebenfalls in Freiburg hat gerade ein Schuhgeschäft nach Umbau neu eröffnet – mit einer hellen, schicken Kaffeebar. In Tübingen gibt es seit etwa einem Jahr einen Unverpacktladen, in dem man inmitten von Haarseife, Olivenöl und Emaillegefäßen an nostalgischen Tischen Latte macchiato trinkt und sogar ein kleines Mittagessen bekommt.
In einem Berliner Vorort, in dem viele Pferdeställe beheimatet sind, läuft ein Café mit Reitzubehör, Pferdefutter und Trensenanhängern; was zu Beginn vor zehn Jahren vor allem junge Reiterinnen und deren Community aus den Ställen angezogen habe, sei inzwischen auch für Berliner ein gutes Ausflugsziel, sagt die Besitzerin. In vielen Orten servieren Blumengeschäfte Kuchen und Cappuccino neben ihren Wiesenblumensträußen, Grabgestecken und Tulpenzwiebeln.
Die Kombination Schuhe plus Kaffee taucht oft auf, von Büchern oder Inneneinrichtung plus Kaffee ganz zu schweigen. Für die größeren Dimensionen – Gastronomie in Kauf- und Möbelhäusern und in Lebensmittelläden – hat es in diesem Jahr einen ersten Kongress zur Vernetzung gegeben.
Fragt man wegen eines Überblicks der Ladencafés in Deutschland beim Gastronomieverband Dehoga an, wird man freilich nicht fündig. Vernetzt mit anderen sind die angefragten Cafés nicht. Je nach Größe lohnen sich für die Betreiber finanziell entweder eher der Kaffee und die Snacks oder die anderen Produkte, und das jeweils andere ist schmückendes Beiwerk.
Dass Geschäft und Café zusammenkommen, schafft ein kleines Erlebnis: Es gibt nicht nur Getränke und eine Pause, der Gast kann auch stöbern, Produkte beim Kaffeetrinken testen; da werden viel mehr Sinne angesprochen, als es beim Online-Shopping jemals möglich wäre.
Das wird im „Willi“ deutlich, einem Möbelcafé in Tübingen. (Universitätsstädte scheinen beliebte Milieus für diese Art Geschäft zu sein.) Ich kenne es aus Studienzeiten; damals gab es dort auch Kleidung zu kaufen. Hier kann so gut wie das ganze Mobiliar, auf dem man es sich gemütlich gemacht hat oder das an Decke und Wänden hängt, mitgenommen werden. Dementsprechend zusammengewürfelt ist die Ausstattung.
An diesem heißen Freitagmittag sitzen im schattigen Hinterhof zwei Frauen nebeneinander auf den Skiern und dem Snowboard, die ein Fahrradmechaniker zu einer Bank zusammengebaut hat. Studenten lesen auf durchgesessenen grünen Samtsofas, manche machen sich Notizen. Vor ihnen stehen leere Tassen, Wassergläser und gefüllte Pitas. Es ist Prüfungszeit vor der Sommerpause.
Der Betreiber Theofilos „Theo“ Kalaitzidis, mit Hipsterbart und Flipflops, zeigt mir einen bunt bezogenen Sessel im Obergeschoss. Das dazu passende Sofa hätten sich Studenten für ihre Wohngemeinschaft gekauft. Außerdem kämen immer wieder Studenten mit ihren Eltern, die zu Besuch sind. Sie sitzen dann auf den Kinosesseln oder an dem Stehtisch, der ein Kunstwerk aus Balkongitter und einem Holzbrett ist. „Die Eltern fragen dann auch mal nach einem Spiegel oder einer Lampe, weil sie ein Souvenir von ihrem Urlaub bei den Kindern mitbringen wollen.“ Ein Stückchen shabby chic für zu Hause, die Preise liegen im zwei- bis dreistelligen Bereich.
Begonnen hat Kalaitzidis 2014 mit dem „Willi“-Shop, denn er bekam von der Stadt zunächst keine Erlaubnis, hier Gastronomie zu betreiben. Nur 20 bis 30 Prozent der Fläche durften mit Kaffeemaschine oder auch Kühlvitrinen belegt sein, der Rest war für den Verkauf bestimmt. Zuvor hatte es in dem wenig charmanten Betonflachbau aus den 1950ern nur Läden gegeben; kurz zuvor war hier noch ein Kopiergeschäft beheimatet.
Nach dem geplatzten Neubauprojekt einer Kulturhalle an dieser Stelle wurde das Gebäude renoviert, und einen Teil bekam eben Kalaitzidis. Der Beginn war unerwartet schwer für den Gastronomen, der bereits zwei Standorte betrieb. Seine Mitarbeiter schwenkten auch mal Schilder, damit die Menschentraube gegenüber an der Bushaltestelle auf das „Willi“ aufmerksam wurde. Mit der Aufschrift: „Traut euch! Kommt rein auf einen Kaffee!“ Seit zwei Jahren darf Kalaitzidis das „Willi“ offiziell auch Café nennen, und er schreibt schwarze Zahlen.
Letztendlich liegt der Erfolg des „Willi“ wie aller Ladencafés vor allem darin begründet, dass sie eine einmalige und lässige Kulisse bieten, nicht nur für Facebook- und Instagram-Bilder. Ein bisschen Inszenierung muss heutzutage schon drin sein. Gut sichtbar wird das im „Willi“, wo inzwischen schon Hochzeitsfeiern abgehalten wurden.
Bildtauglich ist hier einfach vieles. Eine angehende Laborassistentin, die mit ihren Kolleginnen öfter in der Woche ihre Mittagspause hier verbringt, sagt, sie habe die selbstgebackenen Zimtschnecken schon häufig schön angerichtet auf Bildern bei Facebook entdeckt. Jetzt hat sie welche vor sich auf dem Teller liegen, noch ein bisschen warm aus dem Backofen, und knabbert sie an: „Die Zimtschnecke sieht nicht nur auf dem Foto gut aus, sondern ist auch lecker.“
Ihre Kolleginnen mögen die veganen Produkte, Gebackenes, aber auch die Mandelmilch im Kaffee. Dass hier Möbel zum Verkauf stehen, wussten sie bisher nicht. Aber so einen Kinosessel, auf dem sie neulich saßen, den würden sie sich dann mal genauer ansehen.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 09.08.2018 17:02 Uhr
