Gletscherschwund in den Alpen : Wenn steigende Temperaturen den Fels freilegen
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Auf dem Rückzug: Obwohl im vergangenen Winter extrem viel Schnee gefallen ist, schrumpft nach Erkenntnissen Schweizer Wissenschaftler auch der Rhonegletscher weiter. Bild: Nomi Baumgartl
Die Fotografin Nomi Baumgartl dokumentiert die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gletscher. Es ist ein Rennen gegen die Zeit.
Schweiz, Graubünden, Bernina: „Festsaal der Alpen“, so wird die Bergwelt genannt, die sich um den Piz Bernina schart, den östlichsten Viertausender der Alpen, 4049 Meter hoch. Festsaal deshalb, weil hier alles versammelt ist, was man sich landläufig unter hohen Bergen vorstellt: steile Grate, schnee- und eisbedeckte Gipfel, mächtige Gletscher. Zumindest war das einmal so.
In fast 3000 Metern Höhe fegt an diesem Tag ein heftiger Sturm über die Grate. Von Temperaturen um minus 30 Grad lässt sich Nomi Baumgartl nicht beeindrucken. Sie fotografiert, was von den einst riesigen Eisflächen noch übrig ist: Die Nordostwand des Piz Roseg (3937 Meter), vor 50 Jahren noch eine einzige weiße Fläche, ist aufgrund des Gletscherschwunds heute sichtbar von Fels durchsetzt. Bergsteiger fürchten den massiven Steinschlag in der anspruchsvollen Eistour. Und am Biancograt, der sich zum Gipfel des Piz Bernina hinaufzieht, wird die Eisschneide immer steiler und schmaler und damit für Bergsteiger fordernder. Der Gletscherrückgang in den Alpen geht auch an ihrem Festsaal nicht spurlos vorüber.
Vergänglichkeit festhalten
Nomi Baumgartl, 69 Jahre alt, renommierte Fotografin mit Veröffentlichungen in „Time“, „Life“, „Vanity Fair“ und „Vogue“, für ihre Arbeiten vielfach ausgezeichnet, hatte schon vieles und viele vor der Kamera – Supermodels wie Kate Moss und Tatjana Patitz in New York wie auch Hunger, Krieg und Not in Afrika. Nomi Baumgartl porträtierte die Fotografenlegende Andreas Feininger, der ihr erst Vorbild und später enger Freund war, und sie hielt Papst Johannes Paul II. fest, wofür sich die sonst verschlossenen Türen des Vatikans für sie öffneten.
Ein schwerer Autounfall stellte ihr Leben dann auf den Kopf – und veränderte die Schwerpunkte ihrer Arbeit. Statt der so schillernden wie künstlichen Modewelt rückt Nomi Baumgartl heute die Folgen des Klimawandels in den Fokus. Besonders angetan haben es ihr, weil die Veränderungen dort besonders augenfällig sind, die Gletscher – zuerst in Grönland, wo der Gletscherschwund besonders rapide voranschreitet. Und seit vier Jahren dokumentiert Nomi Baumgartl nun auch die Veränderungen der Alpengletscher.
Bei der Weltpremiere des Films über das von ihr initiierte Grönland-Projekt „Stella Polaris – Das leuchtende Gedächtnis der Erde“ erlebte sie, dass junge Schauspieler in Los Angeles sie fragten, was es denn mit dem Klimawandel nun wirklich auf sich habe. Und als der Arktis-Film und die Fotos dazu in Deutschland gezeigt wurden, war Baumgartls Eindruck, dass die Menschen in Europa zwar eine Vorstellung vom Klimawandel haben, die globalen Zusammenhänge aber zwischen Grönland und Alpen nicht herstellen können. „Ich will zeigen, dass der Klimawandel vor unserer Haustüre sichtbar ist“, sagt sie über ihr aktuelles Kunstprojekt.
„Sterbebegleitung“ der kalten Riesen
Früher, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, haben Bergmaler wie Edward Compton und Ernst Platz die mächtigen Vorstöße der Gletscher in ihren Bildern gezeigt und unser Bild der Alpen geprägt. Heute zeigen die Aufnahmen von Nomi Baumgartl, wie massiv der Temperaturanstieg den Alpen zugesetzt hat – wie weit die Gletscher sich in den von ihnen geformten Tälern zurückgezogen haben. Steigende Temperaturen legen den Fels frei wie Geier die Knochen eines erlegten Tiers. „Ich konnte bei meiner Arbeit in den vergangenen vier Jahren dem Gletscherrückgang förmlich zusehen und habe manchmal meinen Augen nicht getraut, in welch kurzen Zeiträumen vollkommen neue Bilder entstanden“, sagt Baumgartl. Sie beschreibt ihre Arbeit denn auch als „Sterbebegleitung“.