Anna Schaffelhuber : „Ich mach den Sport nicht, weil ich Rollstuhlfahrer bin“
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Nicht dir pure Freude allein: Anja Schaffelhuber spürt Druck Bild: Imago
Fünf Siege bei den Paralympics 2014 machten Anna Schaffelhuber zu „Gold-Anna“ und zum Role Model des Behindertensports. Eine Geschichte vom vollkommenen Glück? Eher nicht.
An diesem Samstag wird Anna Schaffelhuber zu ihrem ersten Rennen starten, dem ersten von fünf Wettkämpfen, zu denen sie bei den Paralympics antritt. Sie wird dort oben stehen und hinunterschauen auf die Piste des Jeongseon Alpine Centre. Der Monoski, auf dem sie sitzend den Hang hinuntergleiten wird, ist bestens präpariert. Volle Konzentration auf die Strecke, das Ziel. Natürlich möchte Anna Schaffelhuber die Schnellste sein, was auch sonst. Vor vier Jahren, in Sotschi, war sie das in jeder Hinsicht. Fünf Starts, fünf Goldmedaillen, das war, mit 21 Jahren schon, eine Krönung. Wenn Anna Schaffelhuber über diesen goldenen russischen Winter spricht, dann ist das aber längst nicht nur eine Geschichte von Glückseligkeit, von der Erfüllung eines sportlichen Traumes. Dann ist das eine Geschichte davon, wie sich alles geändert hat – und wie anstrengend das sein kann. „Die letzten vier Jahre“, sagt Anna Schaffelhuber, „waren die extremsten in meinem Leben.“
Denken Sie noch viel an Sotschi?
Relativ viel, ehrlich gesagt. Das war mein Überjahr, da habe ich alle Weltcups gewonnen, und es hat vom ersten Trainingstag an alles gepasst. Ich habe jede Saison irgendwie mit der Sotschi-Saison verglichen, besonders diese. Ich habe für mich erst lernen müssen, dass ich einen neuen Weg gehen muss.
Sie sind jetzt nicht mehr einfach Anna Schaffelhuber, sondern immer Anna Schaffelhuber, die fünffache Goldmedaillengewinnerin, „Gold-Anna“. Nicht immer so einfach, oder?
Nein, der Ballast und der Druck fahren immer mit. Letztes Jahr vor der WM habe ich zu einer Teamkollegin gesagt, die zum ersten Mal dabei war: Genieß es, das kann ich nicht mehr, das gibt’s bei mir nicht mehr.
Sondern?
Man muss wieder abliefern, es wird von außen erwartet, und man selber will ja auch wieder abliefern. Mir graust’s manchmal, wenn ich zu einem Großereignis hinfahre und weiß, ich muss einfach abliefern. Zum Genießen werden die Spiele nicht. Wenn dann mal die erste Medaille da ist, ist es vielleicht einfacher.
„Abliefern“ – das Wort verwendet Anna Schaffelhuber immer wieder an diesem Nachmittag ein paar Wochen vor dem Abflug nach Pyeongchang, am Esstisch ihrer Wohnung. Nach Lust und Vergnügen klingt das nicht, eher nach Last und Verpflichtung. Anna Schaffelhuber ist querschnittgelähmt, sie liebt die Freiheit, die ihr der Sport gibt, ob auf dem Handbike oder dem Monoski. Nach Höhenkirchen, an den Stadtrand von München, ist die gebürtige Regensburgerin auch gezogen, um nahe an der Natur zu sein. Im vergangenen Winter wagte sie mit dem früheren Langläufer Peter Schlickenrieder, heute Autor und Filmemacher, ein Abenteuer, eine gemeinsame Alpenquerung mit dem Handbike, dem Raftingboat und dem Gleitschirm, „schauen, was geht, was geht nicht“, wie sie sagt. Es ging viel – und es blieb das Gefühl von Freiheit. Jetzt, in Pyeongchang, herrscht wieder der Ernst des Leistungssportler-Lebens. „Ich will mich da nicht beschweren“, sagt Anna Schaffelhuber, „es war ja auch geplant, dafür habe ich trainiert, die Ergebnisse wollte ich einfahren. Aber es geht eben nicht leicht von der Hand.“
Ganz unbeschwert den Hang runter – das geht für Sie nicht mehr?
Es fährt immer mit. Ich hatte meinen Traum Gold, jeder Sieg auf dem Weg dorthin war ein Teilerfolg, ein Schritt zu diesem Gold. Danach hat sich das komplett geändert, ein Sieg war nicht ein neuer Schritt und ein neuer Erfolg, sondern eine Bestätigung. Das ist etwas anderes, Schwierigeres. Und du bewegst dich einfach auch nicht mehr ganz frei, es schaut immer jemand auf dich: Wie ist die Schaffelhuber jetzt grad’ drauf.
Wer schaut da? Medien, Öffentlichkeit, Teamkollegen?
Im Endeffekt alle. Wenn ich mal ein Rennen nicht gewinne, und das ist ja völlig normal, dann wird das von den anderen viel mehr gefeiert, weil sie sagen: „Ich hab die Schaffelhuber geschlagen.“ Oder die Medien: „Läuft noch nicht bei Schaffelhuber.“ Oder auch einfach, wenn ich im Training steh: „Ah, da ist die Schaffelhuber, wie fährt’s denn heute?“
Haben Sie regelrecht Strategien entwickelt, um dem zu entkommen?
Ja, das muss ich auch. Man kann damit auf zwei Arten umgehen. Ich kann mich von der Situation ausbremsen, blockieren lassen. Oder ich kann es umdrehen und sagen: Die anderen müssen abliefern. So will ich es für mich sehen: Ich hab’ im Endeffekt meine Geschichte schon geschrieben, Sotschi nimmt mir kein Mensch mehr. Die anderen sind viel mehr am Zuge als ich.
Nach Sotschi hat Anna Schaffelhuber sogar kurz daran gedacht aufzuhören – zumindest war sie nicht sicher, ob sie bis Pyeongchang weitermachen würde. „Bei den Spielen ist so viel Trubel, da wirst du irgendwann müd’ und willst nur erstmal ankommen, wieder heimkommen.“ Und natürlich war die Frage, was da noch kommen sollte. Tatsächlich kam dann noch etwas ganz anderes dazu. Eine neue Rolle, die der Vorzeigeathletin, des Aushängeschilds für den Para-Sport. Seit 2011 ist Anna Schaffelhuber fünf Mal zur Behindertensportlerin des Jahres gekürt worden, sie ist auch außerhalb des Sports bei Galas zu sehen und gibt dort, mit Natürlichkeit und Eleganz, eine gute Figur ab.
So eine Rolle als Vorzeigeathletin, als Role Model, muss man ja schon auch mögen. Können Sie damit was anfangen?
Ich hab mich nie so gesehen, das kam irgendwie auf mich zu. Am Anfang denkst du schon so: Puh. Auf der anderen Seite freut’s mich auch, weil ich den Einfluss habe, den Sport bekannter zu machen.
Manche Para-Sportler scheinen da regelrecht auf einer Mission zu sein. Wie viel Energie stecken Sie in die Rolle?
Ich seh mich überhaupt nicht auf einer Mission. Das ist eher was, was nebenbei mitläuft. Aber wenn ich das anbringen kann, wenn es um Förderstrukturen oder Barrierefreiheit geht, dann nehm’ ich das gerne mit.
Para-Athleten scheinen ja oft noch in einer anderen Rolle zu stecken: Stärke zeigen. Haben Sie auch dieses Gefühl: Immer stark sein zu müssen?
Es wird einem sehr oft unterstellt, dass man den Sport macht, weil man die Behinderung hat und sich deshalb beweisen will. Das find’ ich schon sehr anstrengend. Ich mach den Sport nicht, weil ich Rollstuhlfahrer bin und jemandem was beweisen will.
Anna Schaffelhuber betreibt ihren Sport schon länger unter Profi-Bedingungen, seit vergangenem Sommer ist sie beim Zoll angestellt, diese Möglichkeit ist neu für Para-Athleten. Es müsste nur mehr davon geben, findet sie: „Diese Entwicklung brauchen wir, um voranzukommen.“ Darum geht es aber auch jenseits des Sports, im Alltag. Anna Schaffelhuber ist mit einer inkompletten Querschnittlähmung zur Welt gekommen. Für sie ist das Thema Behinderung etwas anderes als für diejenigen, die eine Zäsur, oft auch ein Trauma in ihrem Leben erfahren mussten. Etwas Selbstverständlicheres. „Der Rollstuhl“, sagt sie, „war für mich nie ein Thema.“ Auch dank ihrer Familie. „Meine Geschwister und ich haben nie die Probleme gesehen, sondern gewusst, wir müssen Lösungen finden. Wenn wir ein Baumhaus gebaut haben, hieß es nie: D’Anna kommt da net rauf. Sondern immer: Wie bringe mir d’Anna da rauf?“ Das, sagt sie, sei „eine Lebenseinstellung“ Aber Hindernisse gibt es im Alltag genug.
Auf was für Barrieren stoßen Sie?
Es sind eher die kleinen Dinge. Wenn ich zum Bäcker will, und es geht nur über Stufen rein. Wenn ich ins Theater geh, und die Plätze für den Begleiter sind 15 Reihen weiter hinten, dann kann ich auch allein hingehen. Oder, wie gerade, wenn ich in ein neues Schwimmbad geh, wo ich zwar ins Becken komm, in die Sauna aber schon nicht mehr. Der Bademeister hilft dir bestimmt, aber du bist nicht flexibel, nicht frei.
Es geht nicht nur darum, es zu schaffen, sondern...
...es ohne Probleme zu schaffen, genau. Man redet so viel über Inklusion, aber es wird oft nicht sehr stark gelebt. Den meisten fällt gar nicht auf, wie viele Treppen es gibt auf der Welt.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was sich von heute auf morgen ändert, was wäre das?
Ich fänd’s schon mal ganz toll, wenn es etwas gäbe, damit alle neu gebauten Sachen barrierefrei sein müssen.
Fühlen Sie sich manchmal auch schwach mit dem Rollstuhl?
Im Grundsatz nicht. Wenn ich vor dem Bäcker steh, dann mit Sicherheit schon.
Vor Sotschi war Anna Schaffelhuber fünf Wochen in Australien unterwegs, allein, noch so ein Abenteuer, auch wenn es eigentlich anders geplant war. „In den kompletten fünf Wochen“, sagt sie, „hab ich nicht einmal eine Situation gehabt, dass ich wo nicht hingekommen bin.“ Eine besondere Erfahrung, auch wenn das Ziel der Reise ein anderes war: Vor Sotschi noch einmal den Kopf freibekommen. Sie wusste, es würden anstrengende Spiele werden. Das wurden sie über den Sport hinaus, die politisch aufgeladene Situation, Putin, Krim, die Annexion. Anna Schaffelhuber fühlte sich unwohl, plötzlich und ziemlich unvorbereitet inmitten dieser Debatten zu stecken. Sie findet, die Sportler seien „ein Stück weit instrumentalisiert worden“. Dem wollte sie sich entziehen, sich nicht in diese Rolle drängen lassen, auch wenn sie betont, dass sie „natürlich eine Meinung“ habe. Aber sie sei „am Ende des Tages wegen dem Skifahren drüben gewesen“. Politik, das weiß sie, wird auch jetzt in Pyeongchang wieder ein Thema sein – und mehr noch der russische Doping-Skandal, der im Nachhinein einen dunklen Schatten über Sotschi warf.
Finden Sie den Weg des IPC richtig, dass Russen jetzt in Pyeongchang unter neutraler Flagge starten dürfen?
Es ist ein sehr schwieriges Thema. Ich finde an sich die Entscheidung, dass sie unter neutraler Flagge starten und Russland nicht im Medaillenspiegel erscheint, ganz okay, damit setzt das IPC schon ein Zeichen. Ich persönlich habe aber auch ein Problem mit dem Generalverdacht. Ohne dass ich dem einzelnen Sportler das und das nachweisen kann, finde ich es schwierig. Und wenn es heute einen Doping-Fall gibt, kann man ja auch nicht sagen, dass es nur die Russen sind. Ein System ist aufgeflogen, aber ich möchte nicht sagen, dass nur die Russen dopen.
Manuela Schmermund, die stellvertretende deutsche Athletensprecherin, eine Sportschützin, hat nach der Zulassung neutraler Athleten beklagt, wie schlimm sie das alles finde, dass sie sich total leer fühle. So tief sitzt es bei Ihnen nicht?
Nein, auf keinen Fall. Bei mir ist es vielleicht auch ein bisschen anders als bei anderen. Ich habe keine fünf Russen vor mir, die mir davonfahren, und ich überhaupt nicht weiß, wie ich rankommen soll. In meiner Sportart ist Doping nicht alles und definitiv nicht der Grund, warum Leute gewinnen.
Wenn Anna Schaffelhuber am Samstag auf die Strecke geht, darf das alles keine Rolle spielen, dann zählt nur noch der Augenblick, das Rennen. „Ich will schon probieren, fünf Mal da oben zu stehen, aber da muss schon alles zusammenpassen.“ Es werden wieder anstrengende Spiele für Anna Schaffelhuber. Und sie wird sich danach, wenn sie zurück nach Hause kommt, wieder fragen, wie es weitergehen soll. Zuerst steht der zweite Teil des Staatsexamens an, Lehramt für die Realschule, Mathe, Wirtschaft, Recht. Die WM im nächsten Jahr will sie dann noch mitnehmen. Und danach? „Das steht in den Sternen.“ Nach Sotschi und Pyeongchang käme als nächstes, 2022, Peking, keine glückliche Folge für jemanden, der das Gefühl von Freiheit liebt. Aber eine gute Gelegenheit, um zum Schluss des Gesprächs noch einen anderen Bogen zu schlagen. Nach Vancouver, 2010, ihre ersten paralympischen Spiele, mit zarten 17. „Das“, sagt Anna Schaffelhuber, „war ein überragendes Erlebnis, eine einzige Party, Kanada und Wintersport, das ist eine Leidenschaft, da war Herzblut dahinter. Das war was ganz anderes als Sotschi oder jetzt Korea, wo das Skifahren keinen interessiert.“
Haben Sie sich frei gefühlt damals?
Absolut. Deswegen bin ich wirklich dankbar, dass ich das auch hatte.