Tour de France : Degenkolb, der deutsche Unvollendete
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John Degenkolb Bild: Reuters
John Degenkolb jagt bei der Tour de France Sommer für Sommer einem Etappensieg hinterher – doch immer wieder bremst ihn etwas aus. Was ist es dieses Mal?
Es ist eine schwierige, eine unglückliche Beziehung. Sie zieht sich schon über Jahre hin, Jahre, in denen John Degenkolb nicht wirklich warm geworden ist mit der Tour de France. In denen dieses Rennen ihm immer wieder die kalte Schulter zeigte. Nicht, dass er nicht auch dort gezeigt hätte, was in ihm steckt: ein tempoharter Radrennfahrer, eine Art Allrounder mit ausgeprägten Fähigkeiten im Sprint. Das ist natürlich eine gute Voraussetzung für die Tour, sie bietet auch Männern wie dem 28 Jahre alten Degenkolb Möglichkeiten zu reüssieren.

Sportredakteur.
Er war häufig schon nahe dran, er hatte immer wieder Chancen, ins gleißende Licht zu treten beim größten Spektakel des Radsports. Verpasste Gelegenheiten allerdings, Sommer für Sommer, und vermutlich wird Degenkolb auch in diesem Juli aus Frankreich abreisen, ohne ein Stückchen vom Glanz erhascht zu haben. Ihm bietet sich wahrscheinlich nur noch eine einzige Möglichkeit, seine Jagd zu krönen, an diesem Freitag in Salon-de-Provence. Aber das Schicksal müsste es schon sehr gut mit ihm meinen, um den wahren Speed-Spezialisten im Peloton an diesem Tag ein Schnippchen schlagen zu können.
Ein Unvollendeter? So sieht Degenkolb sich zwar nicht. Aber wer ihn am Dienstag erlebt hatte, mit all seinem Ärger und seiner Wut auf den australischen Etappensieger Michael Matthews vom Team Sunweb, hat erkennen können, wie sehr ihn die Tour anstachelt und wie sehr sie ihm zusetzt, wenn die Dinge sich nicht wie gewünscht fügen. Er war schon einmal Zweiter bei dieser Tour, hinter Marcel Kittel, das hatte ihm bewiesen, auch wenn er einem explosiven Profi wie dem Thüringer im Duell Mann gegen Mann nicht gewachsen ist, dass er auf geeignetem Terrain im Kampf um die besten Plätze durchaus mithalten kann. Degenkolb hatte es in Romans-sur-Ièsre wieder probiert, er sagte: „Wir sind hier, um eine gute Performance abzuliefern. Es geht darum, Etappen zu gewinnen. Ich hätte das Zeug dazu gehabt.“
Und doch: lediglich Dritter, die nächste Enttäuschung. Mehr noch: ein John Degenkolb, der handgreiflich wurde, der Matthews am Kragen packte, weil der Australier ihn im Finale angeblich behindert hatte. Mit Absicht, wie Degenkolb klagte. „Matthews hat die Fahrlinie verlassen, von links auf die rechte Seite. Er hat mir bewusst die Lücke zugemacht. Er wusste, dass ich da war, er hat mich gesehen.“ Degenkolb lamentierte, sein Team Trek-Segafredo legte bei der Tour-Jury Protest ein, ohne damit etwas bewirken zu können. „Es geht nicht um Erfolgsaussichten“, sagte Degenkolb, „es geht einfach ums Prinzip. Wir sprechen über fairen Sport und darüber, dass man Regeln hat.“
Er hatte sich in Gefahr gewähnt, er fürchtete, in die nächste Karambolage zu schlittern. „Ich bin bei dieser Tour schon einmal gestürzt. Es muss nicht sein, dass ich noch mal runtergehe.“ So wie auf der vierten Etappe, beim Zusammenstoß von Peter Sagan und Mark Cavendish. Degenkolb war in hohem Bogen über den am Boden liegenden Briten geflogen. Er zog sich bei dem Crash unter anderem eine Schulterblessur zu, er litt danach unter starken Schmerzen. Und kämpfte sich trotzdem weiter verbissen durch die Tour, als Adjutant seines spanischen Kapitäns Alberto Contador, getrieben außerdem von der Hoffnung auf den Tag x, auf den Moment, in dem die Tour ihm endlich ihr schönstes Gesicht offenbart.
Degenkolb, in Gera geboren und inzwischen in der Nähe von Frankfurt zu Hause, wird sich nun weiter gedulden müssen, nachdem Matthews ihm in die Quere gekommen ist. Eine harte Probe selbst für einen, der genau weiß, wie schnell Pläne zunichtegemacht werden können, wie tückisch der Alltag eines Radprofis sein kann, wie viel Pein er bereithalten kann und wie viel Demut er erfordert. Degenkolb hatte das besonders leidvoll im Januar 2016 erfahren müssen, als eine britische Autofahrerin in Spanien in eine Trainingsgruppe seines damaligen Teams Giant-Alpecin gefahren war und auch Degenkolb schwer verletzte. Krankenhaus, mehrere Operationen, die linke Hand bis heute beeinträchtigt. Ein tiefer Einschnitt in seinem Leben, der alle sportlichen Sehnsüchte zunächst hatte schrumpfen lassen. Aber sie sind längst wieder da bei einem Mann, der schon auf höchsten Gipfeln stand, der Monumente des Radsports wie die Frühjahrsklassiker Mailand–San Remo und Paris–Roubaix erobert und es zu Rang und Namen in seinem Beruf gebracht hat. Aber was zählt das schon bei der Tour? Degenkolb muss noch herausfinden, wie er sich bei ihr einschmeicheln kann.