Kritik in Offenem Brief : „Ein Niedergang der Werte im Tennis“
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Stan Wawrinka möchte sich mit den Zuständen im Männertennis nicht abfinden und prangert das in einem Offenen Brief an. Bild: Reuters
An der Spitze der Dachorganisation im Männertennis gibt es Turbulenzen. Dabei geht es vor allem um einen Amerikaner, der wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wird. Einem Spieler wird es nun zu bunt.
Der offene Brief beginnt mit der förmlichen Anrede „Sir“ und endet mit dem Ausdruck der Hoffnung, der Tennissport möge sich bald von der jüngsten grässlichen Zeit erholen, zwischen dem ersten und den abschließenden Worten aber steckt explosiver Stoff. In diesem Brief, den die „Times“ in London am Freitag veröffentlichte, beklagt der Schweizer Tennisprofi Stan Wawrinka einen „Besorgnis erregenden Niedergang moralischer Werte“. In den vergangenen Monaten hatte er immer wieder Kritik am Umgang mit der Causa Gimelstob in der Dachorganisation des Männertennis (ATP) geäußert; eines Falles mit vielen Facetten.
Der Amerikaner Justin Gimelstob, früher selbst Profi, danach in mehreren Rollen als Fernseh-Kommentator, Produzent und Coach seines Landsmanns John Isner im Tennis tätig, gehörte seit 2008 als Repräsentant der Spieler aus Nord- und Südamerika zum Vorstand der ATP. Und er gab diese Funktion auch nicht auf, als er im Dezember vergangenen Jahres in den Vereinigten Staaten wegen schwerer Körperverletzung angeklagt wurde, weil er Ende Oktober einen Bekannten seiner früheren Frau auf offener Straße angegriffen, zu Boden gerissen und übel traktiert hatte.
„Schweigen verdichtet sich zu Mitschuld“
Manche Spieler mochten die Frage, ob sie von einem offensichtlich gewaltbereiten Mann weiter vertreten werden wollen, nicht beantworten. Wawrinka, der seit 2014 zwei Jahre lang zum Spielerrat der ATP gehört hatte, ließ dagegen wissen, im Vorstand seien Leute, die dort keinen Platz mehr hätten; und es war ziemlich klar, wen er damit meinte. Gimelstob spielte während seines Prozesses eine Rolle bei einer Abstimmung, in der sich der Vorstand gegen die Verlängerung des Vertrages des britischen ATP-Chefs Chris Kermode aussprach. Es war ein offenes Geheimnis, dass Gimelstob diesen Posten für sich selbst im Sinn hatte, unterstützt offenbar von der Nummer eins des Männertennis und dem Vorsitzenden des Spielerrats der ATP, Novak Djokovic.
Im April wurde Gimelstob von einem Gericht in Los Angeles zu einer Strafe von drei Jahren auf Bewährung, 60 Tagen gemeinnütziger Arbeit und zu einem Anti-Aggressions-Training verurteilt; Mittwoch dieser Woche trat er schließlich von seinem Posten als Spielervertreter zurück. Viel zu spät, wie Wawrinka nun öffentlich beklagt. „Das Fehlen von Reaktionen der Menschen, die ins Tennis involviert sind, ist alarmierend“, schreibt Wawrinka. „Das ist eine Situation, in der sich Schweigen zu Mitschuld verdichtet.“
Gimelstob ist also bis auf weiteres raus aus dem Spiel, aber als Erbe bleibt die Frage, wie die Nachfolge des mit seiner Stimme geschassten ATP-Chefs Chris Kermode gelöst werden soll. Viele Spieler waren mit der Arbeit des Briten an der Spitze ihrer Organisation sehr zufrieden, desgleichen Turnierdirektoren wie Patrik Kühnen bei den BMW Open, der findet, Kermode habe einen prima Job gemacht. Djokovic hat die Frage, warum der Spielerrat gegen eine Verlängerung des Vertrages gestimmt habe, bisher nie klar beantwortet; er beließ es beim flachen Kommentar, es sei an der Zeit für eine neue Führungskraft.
Die früheren Vorsitzenden des Spielerrats, Roger Federer und Rafael Nadal, hielten sich bei politischen Fragen in den jüngeren Vergangenheit eher bedeckt. Wobei Federer kürzlich in Indian Wells meinte, vielleicht sei es für ihn an der Zeit, sich wieder mehr zu engagieren. Als er versuchte, einen Termin für ein Gespräch mit Djokovic zu bekommen, ließ ihn der vorsitzende Kollege wissen, er habe keine Zeit. „Sehen Sie uns an“, schreibt Wawrinka. „Dieses politische Chaos wird von einer Handvoll von Leuten mit persönlichen Ambitionen verursacht und – schlimmer noch – ohne einen alternativen Plan nach ihrem Komplott, Chris Kermode abzulösen.“ Es gibt offensichtlich auf allen Ebenen der ATP noch reichlich Redebedarf.