Antipoden – wenn es um die taktische Herangehensweise geht: José Mourinho und Pep Guardiola Bild: Reuters
Ein Parforceritt durch die taktischen Ideen des modernen Fußballs ist das neue Buch von Michael Cox. Es zeichnet die großen Linien, konzentriert sich auf das, was auf dem Rasen stattfindet und erklärt, wieso die Innovation siegt und nicht das Dogma.
- -Aktualisiert am
Wer erinnert sich nicht: Wie Ricardo Quaresma in der Saison 2001/02 gegen den SC Salgueiros mit einem brillanten Fernschuss traf, gegen Varzim SC gleich in der ersten Minute, mit einer klassischen „trivela“, und dann noch zwei Torvorlagen mit Flanken von rechts und von links gab, die Mário Jardel nutzte? Eine „trivela“ – das ist eine Schusstechnik, die Quaresma kultiviert hat, ein Effetstoß mit dem Außenrist, könnte man im klassischen Fußballdeutsch sagen, ohne damit natürlich die angemessene Eleganz zu erreichen.
Wenn man sich nicht gerade für portugiesischen Fußball im Allgemeinen oder Sporting Lissabon im Besonderen interessiert, mag einem das vielleicht etwas speziell erscheinen. Aber eine überbordende Detailfülle ist ein Markenzeichen im „Umschaltspiel“ von Michael Cox, und als jemand, der dem Fußball auch ein gewisses Maß an Lebenszeit geschenkt hat, kann man nur staunen, welche Menge von Spielen Cox, der auf dem Umschlagfoto an einen jüngeren Christian Seifert erinnert, nicht nur gesehen, sondern auch durchdrungen hat. Das Ergebnis ist, so der Untertitel des Buches, eine Evolutionsgeschichte des modernen europäischen Fußballs, und wer bereit ist, sich auf ein paar Längen und auf Liebhaberwissen wie das um Quaresma und seinen Beitrag zur Meistersaison von Sporting einzulassen, wird mit einem Tribünenplatz belohnt – von dem aus man zusehen kann, wie Fußballgeschichte gemacht wird.
Der Engländer Cox ist Autor für das Online-Sportmagazin „The Athletic“, vorher hat er unter anderem für den „Guardian“ geschrieben. Einen Namen gemacht hat er sich aber vor allem mit dem Taktikblog „Zonal Marking“ – so heißt das Buch auch im Originaltitel. Seine Zeitreise durch den europäischen Fußball beginnt gewissermaßen beim Urknall der Moderne: 1992, die Einführung der Premier League, die Umwandlung des Europapokals der Landesmeister in die Champions League, der Ausgangspunkt der gnadenlosen Ökonomisierung, die aus dem Spiel, in dem Deutschland 1990 ein drittes Mal Weltmeister geworden ist, binnen weniger Jahre ein anderes gemacht hat.
„Wir lehren nicht ein bestimmtes System, wir lehren sie alle“
Diese institutionelle Revolution, zu der auch das Bosman-Urteil 1995 seinen Teil beiträgt, lässt Cox praktisch völlig beiseite, was zugleich den Blick freilegt für das, was auf dem Rasen passiert, das Spiel als solches: Die Trainer und Spieler als Agenten der Geschichte, die nationalen Traditionen und Denkschulen, die taktischen Entwicklungen. Das Motto von Gianni Leali, dem Leiter des italienischen Ausbildungszentrums Coverciano in den neunziger Jahren, das Cox zitiert, könnte auch seinem Buch voranstehen: „Wir lehren nicht ein bestimmtes System. Wir lehren sie alle und erklären die Vor- und Nachteile von jedem einzelnen.“
Das lässt sich, taktisch gesehen, auf die Vorherrschaft der Serie A in dieser Zeit beziehen, verweist aber eben auch darauf, dass historisch betrachtet der Sieger nicht Dogma heißt, sondern Innovation. Im ersten Moment wirkt es zwar ein wenig konstruiert wie Cox die Epochen in Vierjahresabschnitte fasst: auf die Niederlande folgen Italien, Frankreich, Portugal, Spanien, Deutschland und England. Aber am Ende erweist es sich als Ordnungsprinzip, in das sich die Geschichte alles in allem erstaunlich selbstverständlich fügt.
Spannend ist vieles, was Cox beschreibt: der Dualismus Cruyff/van Gaal, der weit über die Niederlande hinaus seine Spuren im Spiel hinterlassen hat, die methodischen Fundamente der portugiesischen Ära, die auch noch einmal daran erinnern, was für ein Anderer als heute José Mourinho einmal war, die legendären Clásicos, in denen Mourinho und Pep Guardiola unversöhnliche Gegenspieler weit über das Taktische hinaus werden.
Frei von Wertungen
Oder aus deutscher Sicht das, was an gegenseitiger Befruchtung von Guardiolas Zeit in München geblieben ist, und natürlich das „Gegenpressing“ des Jürgen Klopp – ein Wort, das noch vor seinem Erfinder selbst Eingang in die englische Fußballkultur gefunden hat.
Das alles schildert Cox in einem angenehm unaufgeregten Ton, der gleichermaßen frei von Fußball-Nerdismus wie von (ästhetischen) Wertungen ist. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die brutale Zerstörungstaktik der Niederländer im WM-Finale 2010 gegen Spanien, von der Cox sich angewidert abwendet, oder Mourinhos Wandlung vom offensiv denkenden Erneuerer zum finsteren Zyniker, der Barcelonas Assistenztrainer Tito Vilanova den Finger ins Auge bohrt.
So wird das „Umschaltspiel“ zur Vorlage für all jene, die sich für die Zusammenhänge des Spiels interessieren, die großen Linien, und nicht das Klein-Klein des Alltags oder die Schnipsel, in denen heute die spektakulärsten Szenen in Endlosschleife konsumiert und aus ihrem Kontext gerissen werden.
Wie es wohl mit dem Fußball, auch mit und nach Corona, weitergeht? Die englische Epoche, in der wir uns befinden, sie ist nicht nur geprägt von der ökonomischen Hegemonie, sondern auch davon, dass sie fußballerisch das Beste aus allen Welten verschmolzen hat, so wie Cox das schon in seinem vorherigen Buch „The Mixer“ beschrieben hat. Sollte das etwa bedeuten, dass wir am Ende der Geschichte angekommen sind? Das hat sich doch schon einmal als Täuschung erwiesen.