Doping : Leichenfledderei für Goldmedaillen
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Erfolgs-Stoff: Auch die Westdeutschen forschten eifrig auf Kosten von Staat und Athleten Bild: dpa
Eine Akte klärt über westdeutsche Doping-Forschung im Auftrag des Bundesinnenministeriums auf. Bis in die Neunzigerjahre wurden Studien durchgeführt und zum Teil gefährliche Substanzen getestet.
Die Akte, die den internen Titel „VF 1220/13/72“ trägt, sorgt für Aufregung. Und das mit Recht. Stellt das 17 Seiten lange Dokument vom 21. Oktober 1971, das die „Main-Post“ und die „Märkische Oder-Zeitung“ veröffentlicht haben, doch ein Schlüsseldokument für die Geschichte des Dopings in Westdeutschland dar. Denn mit diesem Papier beantragten Professor Herbert Reindell, seinerzeit Leiter des Instituts für Kreislaufforschung und Leistungsmedizin an der Medizinischen Klinik der Universität Freiburg, und dessen Kollege Professor Joseph Keul beträchtliche Summen, um beispielsweise die Wirkung der anabolen Steroide im Leistungssport zu untersuchen.
Warum ist diese Quelle so bedeutend? Weil sie Auskunft gibt über einen der ersten Anträge, über die das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) zu entscheiden hatte - also jene Behörde des Bundesinnenministeriums (BMI), die im Oktober 1970 gegründet worden war und seither für die Bundesrepublik die sportwissenschaftliche Forschung abwickelte und finanzierte. Diese Akte erzählt also, was exakt das BMI, damals unter Hans-Dietrich Genscher, erforschen lassen wollte.
„Dann ist das ja in der Welt“
„Wird durch Anabolika die Leistungsfähigkeit bei Kraftübungen gefördert und in welchem Maße besteht eine Gefährdung durch Einnahme von Anabolika (Fortführung bereits in diesem Jahr begonnener Versuche)“ lautete eine Forschungsfrage der Freiburger Sportmediziner. Wie wir im Rahmen eines historischen Forschungsprojektes „Doping in Deutschland“ belegt haben, finanzierte das BISp die Anabolika-Studien mit hohen sechsstelligen Summen. Und zwar nicht nur 1972, sondern bis 1993.
Die Grundlage unserer Aussagen waren bisher lediglich jene Kopien aus dem Archiv des BISp, die 1991 in großer Eile erstellt wurden, als Abgeordnete der SPD-Fraktion des Bundestags mit Blick auf eine multizentrale Testosteronstudie unter anderem bei Kaderathleten im Ski Nordisch eine Kleine Anfrage an das BMI richteten. Die Parlamentarier wollten damals wissen, welche Projekte mit chemischen Hilfsmitteln das BISp seit 1970 gefördert hatte. Originalakten standen uns als Wissenschaftlern bisher nicht zur Verfügung, und selbst diese Kopien sollten zunächst nicht kopiert werden. „Dann ist das ja in der Welt“, lautete das bemerkenswerte Argument des BISp. Nun ist, mit der Akte „VF 1220/13/72“, ein Original da.
Der Stoff sollte für Medaillen im Westen sorgen
Dass die Freiburger Sportmedizin Anfang der siebziger Jahre auch Insulin und Wachstumshormon an Sportlern getestet haben soll, wie es nun die „Main-Post“ berichtet, ist eine große Überraschung. Der Einsatz dieser Substanzen bei Gesunden ist enorm gefährlich. Wachstumshormon wurde in den siebziger Jahren auf obskure Weise aus der Hirnanhangdrüse von Leichen gewonnen, vornehmlich im Ostblock; es konnte noch nicht synthetisch hergestellt werden. Der Stoff sollte für Medaillen im Westen sorgen.
Wir wissen inzwischen, dass das BISp noch im Jahr 1977 empfahl, anabole Steroide im Leistungssport anzuwenden, also drei Jahre nach dem Verbot der Anabolikaeinnahme durch das Internationale Olympische Komitee (IOC). Das BMI also scherte sich nicht um Recht und Ethik im Sport. Und auch die Gesundheit der Athleten war den BMI-Beamten und den Freiburger Sportmedizinern damals gleichgültig.
Das müssen wir jedenfalls annehmen. Denn sie ignorierten ja die eindringlichen Warnungen vor dem Anabolika-Missbrauch im Leistungssport. Der wirkungsreichste Text hierzu war „Züchten wir Monstren?“, den die damalige Leichtathletin und spätere Doping-Aufklärerin Brigitte Berendonk am 5. Dezember 1969 in der „Zeit“ veröffentlicht hatte. Darin hatte sie über die flächendeckende Nutzung der Steroide in ihrer Sportart berichtet.
Im Leistungssport schon Realität
Berendonk zufolge war der Science-Fiction-Roman „Brave New World“, in dem Aldous Huxley über die Präparierung von Föten mit Hormonen und Blutersatz geschrieben hatte, im Leistungssport schon Realität. Schon 1968 hatten französische Zeitungen über Vorwürfe berichtet, wonach sich deutsche Werfer (die Namen sind bekannt) vollstopften mit Dianabol, einem Anabolikum des Pharmazie-Unternehmens CIBA. In diesem Zusammenhang warnten Wissenschaftler ausdrücklich vor der krebserregenden Wirkung der Steroide. Diese Warnungen existierten seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.