Russlands Biathlon-Trainer Pichler : „Wir müssen runter von unserem hohen Ross“
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Andere Maßstäbe: Pichler plädiert für einen differenzierten Blick Bild: picture alliance / dpa
Nach seiner Ablösung als Cheftrainer der russischen Biathleten leitet der Deutsche Wolfgang Pichler jetzt eine Frauen-Trainingsgruppe des Gastgebers. Im FAZ.NET-Interview spricht er über seine Erfahrungen in Russland und seine Sicht auf Sotschi.
Wolfgang Pichler aus Ruhpolding, Jahrgang 1955, war von der Saison 2011/12 an Cheftrainer der russischen Biathlon-Frauen, bis er im April wegen Erfolglosigkeit von Alexander Selifonow abgelöst wurde. Pichler hat jetzt eine eigene Trainingsgruppe, die nicht von den Doping-Verdächtigungen um Irina Starych betroffen ist.
Alle sagen, das sind Putins Spiele. Was sagen Sie?
Man kann über Putin denken, was man will, aber er hat die Oligarchen in die Pflicht genommen und jedem einen Bereich im Sport zugeteilt. Das ist eigentlich richtiger Kapitalismus. Putin ist so sportinteressiert und hängt Sotschi so hoch, dass er auch mal unangekündigt auftaucht und schaut, ob es funktioniert oder nicht. Sotschi ist für ihn natürlich eine Prestigeangelegenheit, aber auch eine Herzenssache.
Kennen Sie Ihn persönlich?
Nein, aber mit ihm mal auf Deutsch reden, wäre schon ein Highlight.
Aber es geht doch alles andere als demokratisch zu in Russland.
Da habe ich meine Meinung geändert. Für unsere Art von Demokratie ist dieses Land noch nicht reif. Man kann unser westliches Verständnis nicht eins zu eins übertragen. Sonst wäre der Arme noch ärmer und der Reiche noch reicher. Die Oligarchen müssen sich in ihnen zugewiesenen Regionen auch um soziale Dinge kümmern, und das scheint ganz gut zu funktionieren.
Und was ist mit den Umweltsünden in Sotschi und Umgebung?
Das ist so ungerecht. Schaut euch doch mal unsere Alpen an, sie sind komplett verbaut. Egal wo du hinkommst. Das Riesenreich Russland sucht sich eine Gegend aus und baut da ein Skigebiet hin. Natürlich geht das jetzt nicht Schritt für Schritt, sondern eben alles auf einmal. Aber wenn du das vergleichst mit den Alpen, wird es im Maßstab von 1:100.000 sein. Auch Russland hat ein Recht auf ein Skigebiet.
Aber ausgerechnet in Russlands wärmster Ecke?
Wo sollen sie es denn sonst hinbauen? Nach Sibirien, wo die Berge sind? Da ist es so saukalt, da kannst du gar nicht Skifahren. Natürlich kostet das viel, aber es gibt jetzt doch eine Infrastruktur. Russland ist so riesig, das kapieren wir gar nicht. Von Moskau bis Kamtschatka sind es 12 Flugstunden. Bei uns ist alles so klein, und so denken wir auch. In dem Riesenreich muss man das schon differenzieren. Ich war schon ein paar Mal in den Bergen von Sotschi, bin auch in dem Naturpark gewandert: Ich sehe das jetzt nicht so dramatisch von der Umwelt her. Dieses Skigebiet würde bei uns gar nicht auffallen.
Sie sind bekennender Grüner . . .
Ja, und zwar ein sozialistischer. Ich sehe aber jetzt manches mit anderen Augen. Nicht, weil ich in Russland mein Geld verdiene. Sondern weil ich jetzt mehr Einblick habe. Es ist doch besser, wenn die in Sotschi ein großes Skigebiet bauen und dafür andere Regionen in Ruhe lassen. Und was die Kostenexplosion betrifft: So etwas gibt es bei uns auch. Man muss sich nur mal den Berliner Flughafen anschauen.
Und die Diskriminierung der Homosexuellen?
Natürlich ist das Gesetz ein Schmarrn, aber wenn ich mich recht erinnere, ist bei uns der Schwulen-Paragraph 175 auch noch nicht so lange abgeschafft. Aber wir im Team können offen über so etwas reden. Wir machen auch mal ein bisschen Gaudi, wie es denn mit dem Sexualleben steht, wenn man so viel im Trainingslager unter Gleichgeschlechtlichen ist. Da lachen alle. Manchmal sind unsere Themen in Russland überhaupt keine. Ich habe gelernt, dass man alles von zwei Seiten sehen muss.
Wie ist denn sonst Ihr Eindruck von Russland?
Für mich ist es ein Riesenabenteuer und eine riesige Erfahrung. Ich habe mal ein Buch von Oskar Maria Graf („Meine Reise nach Sowjetrussland“) gelesen, der 1934 mit einem Zug durch Russland gefahren ist. Viele Sachen habe ich so ähnlich erlebt. Ich war in Russland, im Ural, in Sibirien. Da habe ich Sachen gesehen, die wir uns als Deutsche nicht vorstellen können. Städte wie Tschaikowski, wo du in einem Laden Kinder-Überraschungseier kriegst, Weißbier kaufen kannst und deinen Riesling. Das ist keine Gaudi. Wir Deutschen müssen runter von unserem hohen Ross. Russland ist nicht hinter dem Mond. Ich habe in Tjumen einen VW-Autosalon gesehen, so groß und so schön, so was gibt es in Deutschland gar nicht. Und wenn es immer heißt, es gebe nur Superreiche und Bettelarme: Ich habe die Mittelschicht gesehen, die Golfklasse. Natürlich gibt es dort auch viele Unzufriedene, weil es ihnen mit dem Wohlstand nicht schnell genug geht. Wie lange hat es denn bei uns gedauert? Unser Wohlstand ist Schritt für Schritt gekommen. Aber wenn ich die Sportstadien sehe, davon können wir nur träumen. In Tschaikowski haben sie ein Trainingszentrum mit sieben Sprungschanzen und einem Hotel mit 300 Betten gebaut - alles vom Feinsten. Nur für Olympia kam alles ein bisschen spät. Auch das ist wieder typisch russisch.
Und wie lautet die Medaillenvorgabe für Sotschi?
Eine Medaillenvorgabe gibt es nicht. Aber die wollen natürlich Medaillen. Das Wichtigste ist, dass Olympia gut läuft, dass Russland der Welt beweisen kann, dass sie gut organisieren können. Die Russen haben ein Imageproblem, weil sie sich schlechter verkaufen, als sie sind. Und sie haben einen Minderwertigkeitskomplex, weil sie eben lange in diesem Riesenreich von der Welt isoliert waren. Sie werden bis zur letzten Minute arbeiten - so wie 2003 bei der Biathlon-WM in Chanty Mansisk. Aber sie haben erstklassige Sportanlagen mit tollen Unterkünften. Wo gibt es das bei Olympia, dass man als Athlet zu Fuß ins Biathlon- oder Langlaufstadion gehen kann? Ich bin überzeugt, dass es auch von der Atmosphäre her gute Spiele werden.
Auch wenn das mit den Medaillen nicht so klappt?
Man muss Russland verstehen, das weiß ich inzwischen. Du fällst nie richtig tief. Wenn sie auch richtig hart tun. Irgendwo findest du sie dann schon wieder, dann kommen sie in einer Region oder sonstwo unter. Du bist nicht arbeitslos. Die russische Seele habe ich jetzt kennengelernt, da wird mal geschrien, dass du denkst, die Welt geht unter. Zwei Stunden später heißt es: Wir sind doch Freunde. Die russische Seele ist schon warmherzig.