Boykott der Paralympics : Plötzlich unpolitisch
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Betrachtet manches durch die dunkle Brille und sieht dennoch nicht schwarz: Philip Craven, der oberste Paralympier, hat seine eigene Wahrnehmung der Dinge Bild: dpa
Jetzt boykottiert auch die Bundesregierung die Paralympics. Deren Präsident Philip Craven pflegt seinen Trott und hofft auf die „besten Winterspiele aller Zeiten“.
Es ist leise geworden in Sotschi. Auf dem weiträumig abgesperrten Olympiagelände fahren leere Busse und Limousinen der Sponsoren von Hotel zu Hotel, Sicherheitskräfte lehnen gelangweilt an den meterhohen Zäunen. Im stark geschrumpften Medienzentrum bearbeiten nicht mehr Hunderte Journalisten ihre Tastaturen, sondern nur noch fünfzig, vielleicht sechzig. Nicht viel deutet in der Sicherheitsblase am Schwarzen Meer auf die Paralympics hin, die an diesem Freitag beginnen sollen. Dabei stehen die Weltspiele des Behindertensports vielleicht vor ihrer größten Bewährungsprobe.
Fünfhundert Kilometer westlich von Sotschi stehen sich auf der Halbinsel Krim ukrainische und russische Soldaten gegenüber. Daher hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) viele Absagen erhalten. Die Eröffnung der elften Winter-Paralympics wird ohne ranghohe Politiker, Prinzen und Prominente stattfinden, zumindest ohne jene aus demokratisch geführten Industrienationen. So hat es in Sotschi kaum jemanden überrascht, dass sich nun auch die Bundesregierung anschloss. „Es ist ein ganz klar politisches Zeichen an Russland“, sagte Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, im „ZDF-Morgenmagazin“.
Die letzten Winter-Paralympics für Präsident Craven
Die ehemalige Wintersportlerin Bentele, die bei Paralympics zwölf Goldmedaillen gewonnen hatte, sollte den Spielen Glanz verleihen. Am Samstag wollte das IPC sie in seine Ahnengalerie aufnehmen, in einer Zeremonie, gesponsert von einem Kreditkartenunternehmen. Bentele wird fehlen. „Das ist enttäuschend“, sagte Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. „Es ist schade, dass die Regierung sich da einmischt.“ Worte wie diese hat Craven in den vergangenen Tagen immer wieder gebraucht, nachdem die Vereinigten Staaten und Großbritannien das Fernbleiben ihrer Minister angekündigt hatten – und ihnen immer mehr Nationen folgten. Für Philip Craven werden es die letzten Winter-Paralympics als Präsident sein, nach drei Amtszeiten wird er 2017 ausscheiden. Gespannt warten viele der fast sechshundert Athleten in Sotschi auf die Eröffnungsfeier. Wie wird ihr Vordenker dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gegenübertreten?
In den russischen Staatsmedien sind die Paralympics noch ein untergeordnetes Thema. Stattdessen pflegen das Komitee, die nationalen Verbände und deren Sponsoren ihren Trott: Moderne Schlitten, hohe Fernsehquoten, soziale Medien, das sollen die Themen sein. Solidarität für die dreißig Sportler aus der Ukraine, deren Angehörige sich vor einem Krieg fürchten, ist höchstens zaghaft zu vernehmen. Stattdessen hofft das IPC auf die „besten Winter-Paralympics aller Zeiten“. Philip Craven, 1973 Weltmeister im Rollstuhlbasketball, ist beim IPC angetreten, um den paralympischen Sport wachsen zu lassen. Einer seiner Lieblingssätze lautet: „Die Welt muss im 21. Jahrhundert zusammenrücken, und die Paralympics sind ein Weg, das zu bewirken.“ Der Geograph, von der Königin zum Ritter geschlagen, kann auf sympathische Art vermitteln, wie behinderte Menschen durch Sport ihre Grenzen ausloten. Er hat vor zehn Jahren ein Positionspapier zum Thema Menschenrechte herausgebracht, in dem er gesellschaftliche Teilhabe fordert. Er hat in London die Agitos-Stiftung auf den Weg gebracht, das Wort Agito stammt aus dem Lateinischen: „Ich bewege mich.“ Das IPC möchte Kriegsversehrte und Terroropfer für Sport gewinnen, im Sudan, in Afghanistan oder Syrien.
„Die Paralympics können Barrieren überwinden“
Aber was ist dieses politische Bewusstsein wert, wenn Craven die Paralympics nun auf den Sport reduziert? In einem Interview Mitte Januar verteidigte er die Vergabe der Spiele an Sotschi: „Die westlichen Medien sollten einsehen, dass sie die Welt nicht nur aus ihrer Perspektive bewerten können. Sie sollten sich auf die Kultur anderer Ländern einlassen. Auch wenn wir gegen politische Grundsätze sind: Wir müssen in diese Länder reisen und über heikle Themen sprechen.“ Damals wurde Putin für Menschenrechtsverletzungen, Enteignung, Korruption und Umweltschäden kritisiert. Inzwischen ist der Bruch des Völkerrechts dazugekommen.
Hat Philip Craven seit der Vergabe tatsächlich über heikle Themen gesprochen? „Das IPC hat sich gesträubt, Druck auf die russischen Behörden auszuüben“, sagt Hugh Williamson, Europa-Direktor von Human Rights Watch. Der oberste Paralympier will die Weltpolitik den Politikern überlassen, das waren seine Worte nach der Ankunft in Sotschi. Doch im positiven Sinne ist Craven gern politisch, wenn er sagt: „Die Paralympics können Barrieren überwinden.“ Seit Jahrzehnten leben behinderte Menschen im Schatten der russischen Gesellschaft. Das soll sich nun ändern. Etwa 500.000 Tickets sollen bereits verkauft worden sein, sagt Dmitri Kosak, stellvertretender russischer Ministerpräsident. Das klingt ähnlich unglaubhaft wie die Aussage der russischen Organisatoren zum Ende der Olympischen Spiele, nach der alle Veranstaltungen ausverkauft gewesen seien. Jetzt werden zudem täglich Fakten über die angebliche Barrierefreiheit von Sotschi verbreitet.
Schon einmal stand Philip Craven unter Beobachtung, 2008 während der Sommerspiele in Peking. Damals wollte er sich nicht zu Menschenrechtsverletzungen in Tibet äußern, auch nicht zu Zensur und Umweltschäden. Später lobte er die positive Kraft der Spiele für Millionen Chinesen mit einer Behinderung. Das Internationale Paralympische Komitee hat danach beeindruckende Spiele in Vancouver 2010 und London 2012 erlebt, mit Umsatz- und Zuschauerrekorden – und vor allem mit einer offenen, ungezwungenen Atmosphäre. In Sotschi wären gute Nachrichten über die Paralympics auch gute Nachrichten für Wladimir Putin. Auch darin folgt das IPC seinem großen Bruder, dem Internationalen Olympischen Komitee und dessen Präsidenten Thomas Bach.