Julija Stepanowa : Die Furcht der Whistleblowerin
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Julija Stepanowa und ihre Familie führen ein Leben, das ihnen viel Mut abverlangt. Bild: dpa
Julija Stepanowa half als Kronzeugin, das systematische Doping in Russland zu entlarven. Sie lebt mit ihrer Familie in Angst um Leib und Leben. Nun spricht sie darüber – und übt Kritik an IOC-Präsident Thomas Bach.
„Wenn uns etwas passiert, sollten Sie alle wissen, dass dies kein Unfall war“, sagt Julija Stepanowa. Die Kronzeugin, die mit ihren Beweisen und Bekenntnissen das systematische Doping im russischen Sport zu entlarven half und damit für den Ausschluss der russischen Leichtathletik-Mannschaft von den Olympischen Spielen sorgte, hat Angst: „Wenn jemand entschlossen ist, uns etwas anzutun, dürfte er Erfolg haben“, fährt sie fort. „Wir sind in großer Sorge, denn wir haben ein kleines Kind.“
Julija Stepanowa und ihr Mann Witali sind seit Ende 2014 auf der Flucht. Damals strahlte das Deutsche Fernsehen den Dokumentarfilm mit belastenden Bild- und Tonaufnahmen aus dem Inneren der russischen Leichtathletik aus, für welche die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) keine Verwendung hatte. Erst das brachte Untersuchungen in Gang und das System ins Wanken. Russische Offizielle, Athleten und Politiker, der Sprecher von Präsident Putin beschimpften die Läuferin als Verräterin; zu ihrer Sicherheit verließen sie Moskau und zogen zunächst nach Berlin und dann in die Vereinigten Staaten.
Nun hat die Wada festgestellt, dass jemand den Adams-Account von Julija Stepanowa gehackt hat; seitdem ist er blockiert. Die einzige Erklärung für diesen Angriff aus dem Internet auf die Privatsphäre der Läuferin ist, dass jemand den Aufenthaltsort der Familie feststellen wollte. Auch der E-Mail-Account von Julija Stepanowa wurde geknackt. Die kleine Familie ist daraufhin, wieder einmal, umgezogen. Am Montag spricht das Paar in einer Telefonkonferenz mit Journalisten.
Ihre Wut verbergen die beiden nicht. „Ich hatte nicht erwartet, dass sich die Verbände auf die Seite der Offiziellen in Russland schlagen würden“, sagt Witali Stepanow. „Der Umgang mit dem IOC ist frustrierend.“ Die russische Mannschaft mit mehr als 170 Teilnehmern ist zur Eröffnung der Spiele mit Flagge und Hymne ins Olympiastadion marschiert; die sportlich qualifizierte Julija Stepanowa, für deren Teilnahme die IAAF eine eigene Regel und den Status des neutralen Athleten geschaffen und die sie für ihre besonderen Verdienste um die Doping-Bekämpfung gelobt hat, musste sich vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) als zur Teilnahme „ethisch nicht qualifiziert“ diffamieren lassen.
„War er betrunken?“
„Ich weiß nicht, wie ethisch Thomas Bach ist“, sagt Witali Stepanow nun über den Präsidenten des IOC. Julija Stepanowa wirft Bach und dem IOC vor, dass sie sich nie für die Situation der beiden interessiert hätten. Ein Journalist zitiert Bach mit der Behauptung, keine Organisation habe so viel für die Stepanows getan wie das IOC. „War er betrunken?“, entfährt es Witali. Dann bittet er für den Satz um Entschuldigung. „Seit er versucht hat, uns mit einer VIP-Einladung zu bestechen, haben wir nichts von ihm gehört.“
Das war Ende Juli. Nun spricht wieder Julija. Das IOC habe die Situation immer nur dazu zu benutzen versucht, die eigene Position zu verbessern. Ihr Mann fügt an, wenn Staaten dopten, würden sie nicht bestraft. Bach und das IOC hätten ihre Haltung von null Toleranz gegenüber Doping aufgegeben. Der Hacker-Angriff auf Julia Stepanowa dürfte nicht ihr und ihrem Mann allein gelten. Die bedeutendste Whistleblowerin des Sports einzuschüchtern ist das beste Rezept, Athleten abzuschrecken, die darüber nachdenken, ebenfalls auszusteigen und auszupacken.

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Witali Stepanow fordert, das internationale Regelwerk gegen Doping zu überholen. „Der Wada-Kodex ist für diese Art von Betrug nicht geeignet“, sagt er über das von Verbänden und Staat organisierte und vertuschte Doping. „Man muss ihn schnell ändern, um Informationen, wie sie jetzt vorliegen, rechtlich verwerten zu dürfen.“ Erst am Montag war der Welt-Leichtathletik-Verband mit dem Versuch gescheitert, die ausnahmsweise Starterlaubnis der russischen Weitspringerin Darya Klischina zu widerrufen. Der Verband hat von dem Wada-Sonderermittler Richard McLaren Informationen erhalten, die offenbar auf die Manipulation von Doping-Proben im sogenannten Anti-Doping-Labor von Moskau hinweisen.
Sie waren nicht in der ersten Version des McLaren-Reports enthalten. Nach unbestätigten Berichten wurden Spuren an mindestens einem Behälter mit Proben der Springerin gefunden, die darauf hindeuten, dass er geöffnet wurde. Die DNA-Analyse soll ergeben haben, dass der Urin von zwei Personen stammt. Der oberste Sport-Gerichtshof Cas gab dem Einspruch der Weitspringerin statt, weil sie in Florida lebt und sich dem dortigen Kontrollsystem unterworfen hat. Sie wird einzige russische Leichtathletin bei den Spielen von Rio sein.
„Deshalb muss sie lügen“
Witali Stepanow forderte die Weitspringerin wie die russische Schwimmerin Julija Jefimowa auf, offen über das Doping-Regime zu sprechen. „Jefimowa dankt Mutko (dem russischen Sportminister, Anm. d. Red.) nach dem Urteil des Cas“ (über die Zulassung der russischen Sportlerinnen und Sportler), sagt er. „Nach meiner Meinung sollten die Leute aus dem Ministerium ihr Leben lang vom Sport ausgeschlossen werden.“ Die Schwimmerin lebe in den Vereinigten Staaten, könne die Wahrheit sagen. Sollten Sportler in Russland offen sprechen, verlören sie – wie er vor fünf Jahren – ihre Stellen und jede Unterstützung. Das gelte aber nicht für jemanden, der in Amerika lebe. „Klischina will an den Olympischen Spielen teilnehmen“, sagt Stepanow. „Deshalb muss sie lügen.“