Doping im Sport : Die Mär vom schwarzen Schaf
- -Aktualisiert am
Bald ist wieder Olympia – aber ist das wirklich ein Segen? Bild: AFP
Immer sind es angeblich nur Einzeltäter, die betrügen. So sieht es das IOC. Raus mit ihnen – und alles wird gut. Doch nichts ist gut geworden. In Rio beginnt das Spiel von neuem.
Eine Frage vorweg: Wenn die Mauer nicht gefallen, das flächendeckende Staats-Doping der DDR aber doch publik geworden wäre 1991; wie hätte das Internationale Olympische Komitee reagiert mit Blick auf die Sommerspiele 1992 in Barcelona? Erstens: Einmarsch mit Fahne, Pauken und Trompeten, wie nun im Fall Russland. Zweitens: Die Einzelfall-Überprüfung hätte ergeben, dass bis auf eine Sportlerin (Ilona Slupianek) niemals ein DDR-Sportler positiv getestet worden ist - zumindest von landesfremden Einrichtungen.
Das Doping-Labor in Kreischa bei Dresden ließ keinen Sportler ausreisen, dem die von Sport und Staat angeordnete Einnahme verbotener Substanzen noch hätte nachgewiesen werden können. Sauber. Die DDR hätte ganz schön abgeräumt. Das gelang dem vereinten Deutschland - mit Hilfe dieses über Jahre wirkenden DDR-Erbes und der Freiburger sowie anderer westdeutscher Manipulationskünstler. Da gibt es keinen Zweifel.
Am nächsten Freitag beginnt das Spiel von neuem. Diesmal werden etwa 300 russische Athleten quasi direkt aus dem Staats-Doping-System unter ihrer Fahne während der Eröffnungsfeier der Sommerspiele von Rio ins Stadion marschieren. Trotzdem erfährt das Internationale Olympische Komitee (IOC) - neben der weltweiten Kritik - auch vereinzelt Lob für seine Entscheidung, der russischen Manipulation allein mit Individual-Strafen zu begegnen.
Zeitplan & Termine für Olympia 2016 in Rio de Janeiro
Nicht nur in Russland, vor allem aus der eigenen Familie des Sports. Das IOC verweist auf die Unschuldsvermutung bei Athleten, die nicht positiv getestet worden seien und belegen könnten, kontrolliert worden zu sein. Das klingt honorig, menschlich. Rechtsexperten, nicht alle, nicken. Aus der Charta des IOC geht ohnehin hervor, dass der einzelne Sportler im Mittelpunkt steht, geschützt werden muss. Gleichzeitig aber verdeutlicht dieses Vorgehen, wie das IOC Doping einordnet. Es individualisiert das Kernproblem des Spitzensports. Allein der dopende Athlet ist für das Desaster verantwortlich.
IOC-Präsident : Harting kritisiert Bach als „Teil des Doping-Systems“
So war das schon immer. Bei den Sommerspielen 1988 in Seoul wurde der kanadische Betrüger und Weltrekordhalter Ben Johnson geopfert, obwohl er umgeben war von einer Sprinter-Blase voller Stoff. Die meisten sind später enttarnt worden, peu à peu. Das entspricht einer Doping-Aufklärung in homöopathischen Dosen, existenzvernichtend für das Individuum, leicht verträglich für das Ganze. In Deutschland steht Jan Ullrich für das Übel und den Absturz des Radsports.
Dabei hatte es schon Jahrzehnte vor dem ausgeklügelten Doping-Netzwerk des Teams Telekom ein Manipulations-Konzept des Olympiaarztes Armin Klümper für Kaderathleten des Bundes Deutscher Radfahrer gegeben sowie viele hinreichende Indizien für Betrug im großen Stil mit staatlicher Unterstützung. Lance Armstrong bildet die amerikanische Variante der Doping-Individualisierung, seinerzeit gestützt sogar von Frankreichs Staatspräsident Sarkozy: Die Tour musste den Doping-Skandal 1998 überlebe.
Durchgesetzte „null Toleranz“ vernichtet das Geschäft
Der Fall großer Stars, zuvor als Entwickler und Retter ihrer Sportart und des Sports allgemein gefeiert, wurde stets eingebettet in die Geschichte vom schwarzen Schaf in einer gesunden Sport-Familie. Raus damit - und alles wird gut. Nichts ist gut geworden. Denn die Individualisierung lenkt den Blick nicht nur ab von der Systematik des Dopings im Sport. Sie stützt sie sogar. Weil trotz spektakulärer Doping-Skandale jeweils große Teile zerschlagen geglaubter Strukturen erhalten und die Hintermänner mitsamt ihrer Doping-Kultur im Spiel bleiben.
So ein längst erkanntes, en detail beschriebenes und belegtes System anzuerkennen vom organisierten Sport, hätte aber einen radikalen Wechsel bedeutet: den Austausch des gesamten Personals rund um Spitzensportler mit ihren vergifteten Gedanken: Es geht doch nicht ohne! Aber das traute sich niemand. In Deutschland wurde trotz des DDR-Menschenversuchs ein gerichtlich bestätigter „Fach-Doper“ Chef der Leichtathleten. Den Coach Thomas Springstein, längst als Doper der Sprintgruppe um Katrin Krabbe enttarnt, wählten seine Kollegen zum Trainer des Jahres, bevor er schließlich als Kinder-Doper von einem ordentlichen Gericht verurteilt und - vom Sport - endlich ausgemustert wurde.
Das neue Angebot für den klugen Überblick: Die wichtigsten Nachrichten und Kommentare der letzten 24 Stunden – aus der Redaktion der F.A.Z. – bereits über 100.000 mal heruntergeladen.
Mehr erfahrenOhne Bekenntnis zur grundsätzlichen Verseuchung konnte es keinen Un-Kulturwechsel geben. Nur eine öffentlichkeitswirksame Verurteilung inklusive der geheuchelten „Null-Toleranz“-Beteuerung. Im Grunde blieb es beim Austausch der entdeckten Doper. Denn die radikale Variante hätte nicht die Existenz eines Sportlers, sondern ganzer Sportarten und des IOC gefährdet. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Verdacht geradezu auf, dass das grotesk unterfinanzierte, teils korrupte (siehe Russland) Anti-Doping-System die Manipulationen nicht etwa grundsätzlich reduzieren soll, sondern absichtlich Spielraum lässt für das Überleben das Betrugssystems.
Der häufig verzögerte Einsatz von Nachweisverfahren bislang nicht entdeckbarer Doping-Mittel in den Anti-Doping-Labors hat der Szene immer eine Orientierung geboten: Nach ein paar positiven Fällen wirkte der Alarm. Obwohl laut Insider-Berichten scheinbar unverfängliche verbotene Substanzen zum Beispiel bei der Tour de France und bei Olympia genutzt wurden, gab es nie eine entsprechende große Entdeckungswelle. Ein paar hundert positive Fälle hätten der Tour und Olympia den Garaus gemacht. Niemand wollte das: Nicht die Sportler, nicht die Trainer, die Funktionäre, die Sponsoren, die Medien, die Milliarden Dollar an Fernsehgelder in die Kasse des IOC spülen. Durchgesetzte „null Toleranz“ hätte die Macht, also das Geschäft vernichtet.
„Zu Hause, wie Sie wissen, helfen auch die Wände“
Doping darf also nicht als immanenter Bestandteil des Sportsystems entlarvt werden. Das könnte auch ein wesentlicher Grund sein für die - vorsichtig formuliert - Zurückhaltung des IOC gegenüber den Russen. IOC-Präsident Bach beklagte zuletzt, dass die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) trotz substantieller Informationen 2010 nicht gehandelt habe. Aus einem E-Mail-Verkehr des britischen Journalisten Nick Harris von der „Mail on Sunday“ mit der IOC-Kommunikation geht aber eindeutig hervor, dass auch das Imperium von Bach konkrete, alarmierende Hinweise auf die Machenschaften von Gregorij Rodschenkow erhalten hatte.
Über jenen Mann, der das Anti-Doping-Labor in Moskau leitete, Tausende Doping-Proben verschwinden ließ, Doping-Substanzen an Athleten vergab und inzwischen laut eigener Aussage der Architekt des russischen Betrugssystems mit staatlicher Deckung war, über Jahre. Den (bekannten) Höhepunkt der Täuschung unter Aufsicht des Geheimdienstes organisierte Rodschenkow zu den Olympischen Winterspielen 2014: Die Proben von mehr als hundert gedopte Russen, darunter 15 Medaillengewinnern, tauschten Rodschenkow und der Geheimdienst aus.
Staatliches Doping : IOC schließt Russland nicht von Olympia aus
Diesen Betrug hätte das IOC verhindern können. Denn die E-Mails zu Rodschenkows höchst verdächtigem Verhalten stammten aus dem Sommer 2013. Die letzte Antwort des IOC an den Journalisten lautete: „Vielen Dank. Wir leiten die Informationen an die relevanten Personen weiter.“ Rodschenkow blieb im Amt. Das Labor in Sotschi wurde in den höchsten Tönen gelobt. Als noch nicht bekannt war, dass positive Doping-Proben russischer Sportler nachts durch ein Loch in der Wand ausgetauscht wurden. Staatspräsident Putin sagte kurz nach dem Goldrausch in der Heimat: „Ich weiß nicht, ob wir ständige solche Erfolge wie hier in Sotschi erreichen können (. . .). Zu Hause, so sagt man bei uns, wie Sie wissen, helfen auch die Wände (. . .).“
Draußen in der großen Welt-Sportfamilie hilft im Zweifel das IOC. Denn die Individualisierung des Doping-Problems, das selbstverständliche Pochen des Juristen Bach auf die Rechte und die Verantwortung des einzelnen Athleten, kaschiert einen groben Missstand. Seit der Veröffentlichung des Skandals war es nicht mehr möglich, die russischen Athleten einem unabhängigen Kontrollsystem zu unterziehen. Deshalb haben Anti-Doping-Agenturen von Deutschland bis zu den Vereinigten Staaten sowie die Welt-Anti-Doping-Agentur und deren Athletenvertreter den Ausschluss Russlands gefordert. Diese Experten wurden vom IOC düpiert.
Und der mehrmals überführte Gatlin schlägt Bolt ...
„Man hat uns damit zu verstehen gegeben, dass unsere Arbeit nicht zählt“, sagt ein führendes Mitglied einer Nationalen Anti-Doping-Agentur: „Dabei ist doch klar, dass ein paar Wettkampfkontrollen, die jetzt eiligst noch durchgeführt wurden, niemals ein über Jahre korruptes Kontrollsystem ersetzen können.“ Versuche der Wada, in den vergangenen Monaten ein akzeptables Kontrollszenario aufzubauen, scheiterten etwa an den Schlagbäumen vor russischen Militär-Einrichtungen. Mit anderen Worten: Russische Athleten - das trifft wohl auch für Kenia zu - starten quasi unkontrolliert in Rio. Russlands NOK-Präsident Schukow sprach am Freitag zwar von der wohl „saubersten Mannschaft“ in Rio. Betreut wird sie von dem Personal, das auch in den vergangenen Jahren mitspielte.
Der Gleichheitsgrundsatz, den das IOC vor sich herträgt wie eine Monstranz, kann also nicht erfüllt sein, wenn gleichzeitig starke Athleten doping-gefährdeter Sportarten westlicher Länder regelmäßig überprüft werden. Aber mit der Individualisierung, der Einzelfallprüfung, also mit dem Rechtsschutz für den Sportler nimmt es das IOC ohnehin nicht so genau wie behauptet. Ehemaligen Dopern, die ihre Strafe verbüßt haben, darf ein Start bei Olympia vom IOC nicht untersagt werden. Das russische Nationale Olympische Komitee hat dem IOC aber versichert, dass kein wegen Dopings einst gesperrter Russe gegen seine Nichtnominierung klagen werde. Weil jeder weiß, welche Macht die Systeme im Sport haben, könnte das Agreement dies bedeuten: Ein geläuterter, aber immer noch zu guten Leistungen fähiger Athlet aus Moskau darf Olympia nur im Fernsehen schauen. Der mehrmals des Dopings überführte Justin Gatlin aber schlägt Usain Bolt im Finale über 100 Meter.