Tony Martin im Gespräch : „Alle sind heiß auf Radsport“
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Siebenmaliger Zeitfahr-Weltmeister: Radprofi Tony Martin bei der Arbeit. Bild: dpa
Auch Tony Martin muss wegen der Corona-Krise warten. Im Interview spricht er über Zeiten ohne Druck, die Bedeutung der Tour de France und den ursprünglichen Plan, nach dem Ende der Saison 2020 aufzuhören.
Wie sehen Ihre Tage als Radprofi aktuell aus?
Normalerweise bekomme ich Trainingspläne, die den Tag recht strikt definieren. Gerade jetzt im Frühjahr wäre ich in der Vorbereitung auf die großen Rundfahrten kaum zu Hause – da gäbe es kaum Spielräume. Nun trainiere ich flexibel und weiß manchmal gar nicht genau, wann ich von meinen Fahrten wieder heimkehre. Vom Team bekomme ich zwar Trainingsinhalte, aber gestalten kann ich die als erfahrener Fahrer recht frei. Das ist sehr schön für den Kopf. Vor dem Hintergrund – natürlich im Wissen um das Leid, das die Pandemie vielerorts bringt – kann ich persönlich diese Phase genießen.
Eine neue Freiheit also, zurückgeworfen auf die Basics?
Ja. Nicht dass ich nicht in Form wäre, ganz im Gegenteil: Wenn es hieße, dass es übermorgen zur Tour de France geht, hätte ich keine Angst. Aber dieser immerwährende Druck ist weg, es fehlt dieses enge Raster aus Training, Rennen, Trainingslager und Formaufbau, in dem wir Radprofis uns sonst bewegen. Ich blicke aktuell mehr aus der Warte des Amateursportlers auf das Radfahren: so wie Tausende Spaß daran haben, in ihrem Urlaub zum Radfahren nach Mallorca zu kommen. Dieses Feeling habe ich auch gerade – dass es mir einfach Freude bereitet, komplett frei aufs Rad zu steigen.
Wie drückt sich das aus?
Dieser Leistungszwang ist aktuell nicht mehr da. Meine Wattwerte sind sogar richtig gut, besser als in den vergangenen beiden Jahren zu diesem Zeitpunkt, da stehen richtig gute Nummern in meinen Protokollen, wenn ich von meinen Ausfahrten nach Hause komme. Das Kunststück beziehungsweise der Balanceakt dabei ist, sich weder körperlich noch mental müde zu machen. Ich denke dabei auch an andere Rennfahrer aus Ländern, wie zäh es sein muss, mit Ausgangssperren zu leben.
Sie sind aufgewachsen in Eschborn, haben über den RV Sossenheim früh eine Leistungssport-Laufbahn eingeschlagen und sind dann im Erfurter Sportinternat auf die mittlerweile 14 Jahre lange Profikarriere vorbereitet worden ...
...ich lerne meinen Beruf gerade von einer ganz neuen Seite kennen. Von einer stressfreien Seite, die ich so in all den Jahren noch nicht hatte. Ich hatte schon einige Verletzungen, die mich zwangspausieren ließen. Aber da hatte ich immer den Druck, schnell zurückkommen zu müssen. Dass ich nun alles kann, aber nichts muss, ist neu für mich. Ungewohnt, aber angenehm.
Benötigen Sie zum Ende Ihrer Laufbahn keine konkreten Ziele mehr, um sich zu motivieren?
Doch. Das Ziel, dass hoffentlich Ende August die Tour de France stattfinden kann, spielt schon eine Rolle. Ich simuliere im Training auch Wettkämpfe und versuche das, was ich über den langen Winter aufgebaut habe, nicht herzugeben, sondern zumindest zu konservieren. Dieser ökonomische Gedanke spielt eine Rolle. Dazu habe ich in meiner Mannschaft ein Trainerteam, welches die Daten auswertet. Da habe ich schon den Ehrgeiz, abzuliefern, auch wenn es nur virtuell ist. Die Beine hochzulegen und ziellos durch den Tag zu wandeln passt zudem nicht zu meinem Charakter.
Sie haben zu Jahresbeginn angedeutet, dass 2020 Ihre letzte Profisaison sein könnte. Können Sie nach solch einem von der Pandemie geraubten Rennjahr aufhören oder sogar gerade deswegen?