https://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/sportgymnastik-hat-probleme-mit-der-gerechtigkeit-13801008.html

Rhythmische Sportgymnastik : Wie soll man Dinge sehen, die man nicht sehen kann?

  • -Aktualisiert am

Die deutschen Turnerinnen bei der Gymnastik WM in Stuttgart. Bild: dpa

Die Sportgymnastik hat ein Problem mit der Gerechtigkeit Auch Turn-Präsident Bruno Grandi muss einsehen: Die Kampfrichterinnen sind überfordert. Dies könnte auch ein Problem für Olympia werden.

          3 Min.

          Es ist faszinierend, was in diesen Tagen bei der Weltmeisterschaft der Rhythmischen Sportgymnastik zu sehen ist. Es ist wirklich eine phantastische Disziplin. Aber es braucht Gerechtigkeit im Sport, sonst ist es kein Sport. Andere haben dafür Stoppuhren oder Maßbänder, wir haben Kampfrichterinnen. Mit ziemlich genau diesen Sätzen brachte der Präsident des Turn-Weltverbandes (FIG), Bruno Grandi in Stuttgart im Grunde alles auf den Punkt, ohne jedoch die entscheidende Frage zu formulieren: Können diese Darbietungen mit dem existierenden Reglement überhaupt objektivierbar gemacht werden? Anders gefragt: Kann irgendwer guten Gewissens begründen, warum hier wer auf welchem Platz landet?

          Als Zuschauer sieht man, ob eine Keule auf dem Boden oder in der Hand der Gymnastin landet, ob sich ein Band verknotet oder ob der Ball aus der Fläche rollt. Ein Blick in das Reglement lehrt, dass ein solcher Geräteverlust mit 0,3 bis 0,7 Punkten Abzug bestraft wird. Insgesamt gibt es zehn Punkte für die Ausführung, und deshalb bedeutet eine gefallene Keule noch lange nicht, dass es vorbei ist mit den Medaillenchancen. Zwei Kampfgerichte, eins für die Schwierigkeit, eins für die Ausführung, mit insgesamt dreizehn Jurorinnen bewerten jede Darbietung. Bei den Gruppenvorführungen, in denen gleich fünf Gymnastinnen und deren Handgeräte über die Fläche verteilt sind, ist das ungeübte Auge jedenfalls überfordert.

          Turn-Präsident Bruno Grandi.
          Turn-Präsident Bruno Grandi. : Bild: dpa

          Aber können die Kampfrichterinnen das alles gleichzeitig sehen? Eine international erfahrene Kampfrichterin, die lieber anonym bleibt, sagt: „Es wäre sehr viel einfacher für uns, gute Arbeit zu machen, wenn wir weniger Aufgaben hätten.“ Es gibt keine Videoanalyse, und die Jurorinnen müssen nach weniger als sechzig Sekunden ihre Note abgeben. „Wir fordern von ihnen, Dinge zu sehen, die sie nicht sehen können“, formuliert Vize-Präsidentin Slava Corn unmissverständlich. Die Kanadierin ist mitverantwortlich für eine von Präsident Grandi eingesetzte Arbeitsgruppe, die sich seit 2014 mit den Wertungsvorschriften beschäftigt. Dafür ist eigentlich das Technische Komitee zuständig.

          Mit dem aktuellen Gremium, angeführt von der Russin Natalia Kuzmina, befand sich die Führung des Weltverbandes allerdings zuletzt in einem Rechtsstreit, in dem es um Manipulationen bei Kampfrichterkursen ging. Die FIG suspendierte das komplette Gremium, unterlag aber vor dem Internationalen Sportgerichtshof. „Natürlich wäre der gesamte Prozess anders verlaufen, wenn das Urteil zu unseren Gunsten ausgegangen wäre“, sagt Slava Corn, „aber das Komitee ist ein gewähltes Gremium. Was hätten wir tun sollen?“ Nun ist Natalia Kuzmina Mitglied der Arbeitsgruppe internationaler Experten, zu denen auch die deutsche Teamchefin Katja Kleinveldt gehört.

          Neue App Der TAG jetzt auch auf Android
          Neue App Der TAG jetzt auch auf Android

          Das neue Angebot für den klugen Überblick: Die wichtigsten Nachrichten und Kommentare der letzten 24 Stunden – aus der Redaktion der F.A.Z. – bereits über 100.000 mal heruntergeladen.

          Mehr erfahren

          Das Hauptproblem der Überforderung der Kampfrichterinnen ließ sich die Arbeitsgruppe gar von Universitäten bestätigen, die Tausende Übungen mit Blick auf die Informationsverarbeitung analysierten. Das Fazit ist so schlicht wie ernüchternd: Es fehlt an klaren Regeln. Und das gilt nicht nur für die Bewertung von Ausführung und künstlerischem Gehalt, sondern auch für die Bestimmung der Schwierigkeit. Ein Aspekt, der Bruno Grandi regelmäßig laut werden lässt - vor Wut: „Ein Element wird gezeigt, oder es wird nicht gezeigt“, ereifert er sich auch am Sonntag, „genau so, wie das hier ein Tisch ist und nicht ein Stuhl!“ In der Sportgymnastik ist das bislang oft eine Frage des Ermessens.

          Aber damit nicht genug: Die Jurorin hat gar nicht zu bewerten, was sie sieht, sondern sie hat das, was die Gymnastin zeigt, mit dem abzugleichen, was die Trainerin vorher schriftlich auf einem Formblatt als Übung eingereicht hat. Entscheidend ist das Formblatt. Die Kampfrichterin formuliert ein Beispiel: „Laut Reglement muss die Gymnastin zwei Drehungen zeigen, also muss die Trainerin uns aufschreiben, wie oft sie sich bei welcher Drehung dreht. Sie schreibt also zum Beispiel: Bei der ersten Drehung wird sie zweimal rotieren, das macht einen Punkt, und bei der zweiten Drehung dreimal, das sind dann mehr Punkte.

          Dann kommt die Gymnastin auf die Matte, und aus irgendeinem Grund rotiert sie bei ihrer ersten Drehung drei Mal. Das heißt, sie zeigt mehr, als die Trainerin aufgeschrieben hat, das wäre auch mehr Punkte wert, aber diese Punkte dürfen wir nicht geben. Wenn diese Gymnastin dann bei der zweiten Drehung Probleme hat und anstatt der erklärten drei nur zwei Drehungen zeigt, dann können wir nur zwei Drehungen anerkennen, denn sie hat ja nur zwei gezeigt.“

          Dass diese Verhältnisse zu Absprachen oder Bestechungen einladen, ist offensichtlich. Und die Manipulationen finden auch statt. Am vergangenen Freitag gab die FIG Sanktionen gegen vier Kampfrichterinnen bekannt, die ihr eigenes Land mit zu hohen Noten bedacht hatten. „Umso mehr Spielraum man lässt, umso einfacher wird es natürlich auch, diesen im Sinne der eigenen Gymnastinnen auszulegen“, so Slava Corn. Sie sieht aber Fortschritte. Einige Details wurden verändert, entscheidende Eingriffe sind im laufenden Olympiazyklus nicht erlaubt. Mittlerweile liegt eine lange Liste von Empfehlungen der präsidialen Arbeitsgruppe vor. Doch sie betreffen die Neuauflage der Wertungsvorschriften, und ihre Umsetzung obliegt dem Technischen Komitee. Für die Olympischen Spiele in Rio 2016 bleibt das mit der Gerechtigkeit in der Rhythmischen Sportgymnastik also eine schwierige Sache.

          Weitere Themen

          Iga Swiatek gewinnt Titel bei den French Open

          Finale in Paris : Iga Swiatek gewinnt Titel bei den French Open

          Am Ende kommt es wie erwartet und Iga Swiatek hält den Coup Suzanne-Lenglen in ihren Händen. Gegnerin Muchova hält phasenweise gut mit und sagt: „Das passiert, wenn man gegen die Beste der Welt spielt.“

          Topmeldungen

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.