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Zeitfahr-Champion Tony Martin : Der Windbrecher

  • -Aktualisiert am

Eine perfekte Einheit: Tony Martin kann in flaches Zeitfahren über 50 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 53 Kilometern pro Stunde fahren. Bild: dpa

Bis die Luft wegbleibt und die Welt schwarz wird: Das Zeitfahren ist eine besondere Quälerei. Tony Martin mag das. Und will nun zum vierten Mal Weltmeister werden.

          3 Min.

          Der Beste kommt zum Schluss. Tony Martin ist meist der Letzte - weil er der Schnellste ist in dieser Disziplin. Und es ist immer diesselbe Prozedur. Auf der Rolle einfahren. Kurbeln. Schwitzen. Helm auf. Ab auf die Rampe. Warten, bis der Vordermann davongestrampelt ist. Zwei Meter nach vorn. Die Schuhe in die Pedale einrasten. Ein Helfer, der für ein paar Sekunden die Maschine im Gleichgewicht hält, ein anderer, der mit den Fingern herunterzählt: „Five, four, three, two, one - GO!“

          Dann geht die Quälerei los, der Kampf gegen die Uhr. Ohne Windschatten, ohne Ausrede. Bei der Rad-Weltmeisterschaft im spanischen Ponferrada ist an diesem Mittwoch (Start: 13.30 Uhr) das Einzelzeitfahren 47,1 Kilometer lang. Keine Stunde braucht Martin dafür, der seinen vierten WM-Titel in Folge anstrebt. Seit mehr als einem Jahr hat der 29 Jahre alte Eschborner mit Wohnsitz in der Schweiz alle Zeitfahren mit einer Länge von mehr als 20 Kilometern souverän gewonnen, in dieser Saison hat er sieben Siege auf dem Konto. Der Schweizer Fabian Cancellara und die Briten Chris Froome und Bradley Wiggins sind an normalen Tagen seine einzigen Konkurrenten, in Spanien ist nur Wiggins am Start.

          Martin kann ein flaches Zeitfahren über 50 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 53 Kilometern pro Stunde fahren. Dabei tritt er im Schnitt mehr als 400 Watt. Doch Kraft allein macht nicht schnell in einer Disziplin, in der jeder Profi auch Techniker und Tüftler sein muss.

          Bequem ist anders. Auf einem Zeitfahrrad sitzt man nicht, auf einem Zeitfahrrad liegt man. Je tiefer, desto besser. Je aerodynamischer, desto weniger Angriffsfläche für den Wind - das ist das Geheimnis, und das ist das Problem. Es gilt, sich über die Jahre millimeterweise an eine Position heranzutasten, die so tief ist wie irgend möglich, aber einem noch die Luft zum Atmen lässt.

          Der Beginn der Tortur: Auf der Rolle fährt sich Tony Martin ein, kurbelt, schwitzt, dann geht es richtig los. Bilderstrecke
          Der Beginn der Tortur: Auf der Rolle fährt sich Tony Martin ein, kurbelt, schwitzt, dann geht es richtig los. :

          Die WM-Strecke in Ponferrada ist lang und schwer. Das kommt Martin entgegen. Die ersten 30 Kilometer sind flach, aber am Ende wird es mit zwei Anstiegen heftig. „Man kann nicht wie bei einem komplett flachen Kurs voll losfahren und dann sehen, wie weit man die Geschwindigkeit halten kann“, sagt Martin. „Man muss intelligent fahren, um am Ende noch Reserven zu haben.“ Die Entscheidung über Sieg und Niederlage wird an den Anstiegen fallen. „Dort wird sich zeigen, wer noch richtig drauftreten kann und einigermaßen frisch ist.“

          Martin wird dann auf seinen Radcomputer schauen, auf die Wattanzeige, und wenn sie über 400 liegt, ist er im Plan. Martin ist 1,86 Meter groß und 78 Kilogramm schwer. Ein Hüne unter den oft kleinen, zierlichen Radprofis. Das bringt Nachteile, was Gewicht und Aerodynamik betrifft, aber Vorteile bei der Kraft und dem Druck auf die Pedale. Keiner im Feld kann über lange Zeit einen so großen Gang treten wie Martin, keiner geht mit einer so extremen Standardübersetzung ins Rennen: 58 Zähne vorn, 12 hinten. Sie muss Martin auf den flachen Abschnitten in Schwung halten. Bei Abfahrten, bei denen er bei 75 Kilometern pro Stunde noch treten kann, um das Tempo zu halten oder zu beschleunigen, legt er mit dem Kippschalter am Aerolenker das Maximum auf: 58/11.

          Der Rahmen eines Zeitfahrrads ist eine Spur kleiner als ein normales Straßenrennrad. Es ist etwas schwerer, weil der Rahmen die enormen Pedalkräfte möglichst verwindungsfrei aufnehmen soll. Der Aerolenker, auf dem Martin mit den Unterarmen liegt, stammt ursprünglich aus dem Triathlonsport, er bringt extreme aerodynamische Vorteile - sogar bergauf bei Tempo 20 ist die Zeitersparnis noch messbar.

          Martins Zeitfahrmaschine, an deren Entwicklung bei seinem Quickstep-Team auch der frühere Profi Rolf Aldag als Technikberater beteiligt ist, wurde über die Jahre optimiert. Die Hinterradbremse liegt strömungsgünstig unter dem Tretlager, die Sattelposition und die Ausrichtung des Aufliegers wurden immer wieder verändert, eine Millimeterarbeit auf der Suche nach dem gerade noch Fahrbaren. Martin hat seine Position im Windkanal des Formel-1-Teams McLaren optimiert. Was dort ein paar Sekunden Zeitersparnis verspricht, wird später auf der Bahn und auf der Straße getestet. Wichtig auch der aerodynamische Zeitfahrhelm.

          Der Helm? Er dient nicht der Sicherheit, er bringt drei bis vier Watt

          Er dient nicht der Sicherheit, hat kein schützendes Innenleben, er dient allein dem schnelleren Fortkommen. Drei bis vier Watt bringt er auf Martins Niveau beim selben Krafteinsatz. Selbst mit der Kleidung wird permanent experimentiert. Martins Rennanzug ist als Einteiler maßgeschneidert, die Nähte sind an Stellen, die einen optimalen Strömungsfluss versprechen.

          Ein Zeitfahrer hangelt sich im Rennen permanent an der Schmerzgrenze entlang. Er muss die Balance finden zwischen äußerster Anstrengung und Durchhaltevermögen. Nur ganz am Ende ist alles egal. Den letzten Kilometer, sagt Martin, fahre er „an der Kotzgrenze“, im knallroten Bereich. Die Luft bleibt weg, die Welt wird schwarz. „Es ist unglaublich“, sagt Martin, „wie lange in diesem Zustand ein paar hundert Meter sein können.“

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