Radsportler Degenkolb : Auf die harte Tour
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Seit seinem Unfall sieht der Radsportler nichts mehr als selbstverständlich an. Bild: AFP
Die Frühjahrsklassiker sind die Domäne von John Degenkolb. Ein schwerer Unfall hat ihn nachdenklich gestimmt – und wieder angreifen lassen. Nun startet der Radprofi in seine fünfte Jahreszeit.
Es ist seine fünfte Jahreszeit. Die sechs Wochen vom 18. März bis zum 1. Mai, von Mailand–Sanremo über die Flandern-Rundfahrt, Paris–Roubaix bis zu seinem Heimrennen Eschborn-Frankfurt. Frühjahrsklassiker-Zeit. Lenkt man das Gespräch auf diese großen Rennen, landet John Degenkolb bald bei der „Liebe“ und „Passion“, die er für diese Monumente des Radsports, diese körperlich und mental maximal hochtourige Saisonphase empfindet.
„Es liegt dann dieses außergewöhnliche Flair in der Luft“, sagt der 28-Jährige: „Dafür lohnt es sich, den gesamten Winter über zu schuften.“ Die schweren Eintagesritte sind die Domäne des Kraftpakets, das aufgrund seiner Sprintqualitäten nebst Tempohärte auf welligem Terrain wie für die Klassiker gebaut scheint.
Degenkolb geht es um Siege, er will gewinnen, drunter denkt und macht er es nicht mehr. Das wäre auch schwer vermittelbar nach seinem Wechsel am Jahresende vom unter deutscher Lizenz radelnden Team Giant-Alpecin (jetzt Team Sunweb) zur amerikanischen Equipe Trek-Segafredo. Dort folgt er in der Kapitänsrolle niemand Geringerem nach als dem zurückgetretenen Fabian Cancellara.
„Ich will nicht seine, sondern meine Rolle einnehmen“
Der Schweizer war in seiner glanzvollen Ära überaus erfolgreich in der fünften Jahreszeit, den Wochen zwischen Mailand–Sanremo und Paris–Roubaix. Degenkolb sucht den Vergleich mit Cancellara nicht, scheut ihn aber auch nicht. „Ich will nicht seine, sondern meine Rolle einnehmen“, sagt der Radprofi. Finanzielle Gründe, aber auch die Aussicht, mit stärkeren Teamkollegen an der Seite zu starten, bewogen ihn zum Wechsel.
Mit Koen de Kort brachte er seinen treuesten Helfer von Giant-Alpecin gleich mit. Er fühle sich geehrt, dass Trek-Segafredo um ihn geworben hat, und wisse um die hohen Erwartungen rund um das erfolgsverwöhnte Team, sagte Degenkolb. Gerade bei den Frühjahrsklassikern.
In Sanremo und Roubaix triumphierte Degenkolb 2015 aufsehenerregend. Wähnte er sich beim Sieg bei der „ La Primavera“ schon am Ziel seiner Träume, übertraf der Sieg beim härtesten und prestigeträchtigsten Klassiker Paris–Roubaix, zudem sein erklärtes Lieblingsrennen seit Kindheitstagen, alles. Und es veränderte alles.
Eine klare Anti-Doping-Devise
Aus dem jungen Aufsteiger, groß geworden in einer Zeit, in der Radsport hierzulande seine Lobby und öffentliche Achtung weitestgehend verloren hatte und wegen seiner Verfehlungen oft nur noch Geringschätzung erntete, war ein im Peloton allseits geachteter Champion geworden.
Der zudem mit seinem freundlichen Wesen, der klaren Anti-Doping-Haltung dieser deutschen Rennfahrergeneration und seiner explosiven Fahrweise dem deutschen Radsport auf seinem langsamen, quälenden Weg zurück wertvolle Anschubhilfe leistete.
Jedes Rennen ist anders
Jedes Rennen hat seine eigene Historie und seine speziellen Anforderungen. Mailand–Sanremo (18. März) beeindruckt schon durch seine schiere Länge – knapp 300 Kilometer sind zu bewältigen und Wetterkapriolen haben schon so manches Mal für Wintergefühle statt Frühlingserwachen gesorgt. „Sparen, sparen, sparen ist die Devise. Man muss mit seinen Kräften dort gut haushalten.
Am besten die ersten 100 Kilometer verfliegen so, dass man es kaum mitbekommt“, erzählt Degenkolb: „Der gesamte Treibstoff wird ins Finale gehauen.“ Besonders am letzten Anstieg vor dem Ziel, dem Poggio, gilt es unten und oben am Berg weit vorne zu fahren. Die technisch anspruchsvolle Abfahrt kann Löcher ins Feld reißen, die ein in den vergangenen Jahren in Sanremo stilprägend gewordenen Massensprint verhindern könnten.
Die Flandern-Rundfahrt (2. April) ist dagegen ein belgisches Nationalheiligtum, die Profis fahren durch ein den ganzen Tag währendes Volksfest links und rechts der Strecke mit ihren kurzen, giftigen Anstiegen auf grobem Pflaster. Paris–Roubaix (9. April) mit ihren über 50 Kilometer langen Kopfsteinpflaster-Passagen wird auch „Hölle des Nordens“ genannt, weil jeder Finisher irgendwie auch ein Überlebender ist.