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Ungewöhnliche Handballkarriere : Christian Dissingers Neustart am Persischen Golf

  • -Aktualisiert am

Christian Dissinger hat schon bei einigen Klubs gespielt. Nun hat er in Qatar unterschrieben. Bild: picture alliance / Laci Perenyi

In Bukarest hat Dissinger keine Aussicht auf Spiele. Sein Frust führt ihn nach Qatar zu einem neuen Klub – mit vielen Annehmlichkeiten. Wie weit ist er von der Handball-Nationalmannschaft entfernt?

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          Wahrscheinlich wird Christian Dissinger diesen 29. Juni 2022 nie mehr vergessen. Es war der Tag, an dem ihm sein Klub mitteilte, dass er trotz Vertrages gehen könne. Dissinger, 31 Jahre alt, ist ein besonnener Typ. Doch wirkt es, als seien diese Worte damals einem Schock gleichgekommen: „Bukarest sah wie ein gutes Projekt aus. Das war kein Wechsel ins offene Feuer. Ich sollte mithelfen, etwas aufzubauen. Im Nachhinein war ich aber nicht der Einzige, bei dem es nicht passte – ich wurde einfach aussortiert. Das ist die unschöne Wahrheit.“

          Dinamo Bukarest hatte den Ägypter Ali Zein für Dissingers Position eingekauft. Und den Deutschen damit kalt­gestellt. Nach Titeln in Kiel (Pokalsieger 2017) und Skopje (Champions League 2019), nach den Höhepunkten als Europameister und Dritter der Olympischen Spiele 2016 hing dieses einst größte deutsche Talent plötzlich in Bukarest durch. Training, Training, Training. Ein Dreiviertel Jahr lang. Keine Aussicht auf Spiele. Frust. Sorgen? Dissinger sagt: „Ich würde nicht so weit gehen, dass ich in einer Depression war. Aber ich habe an mir gezweifelt. Ich habe nicht nur rumgelegen und alles hinterfragt. Aber die Untätigkeit hat an mir genagt.“

          „Deswegen ist nicht alles schlecht“

          Seine Lage hat sich mittlerweile verbessert: Er hat den Vertrag in Bukarest Mitte März aufgelöst und einen neuen Klub gefunden – in Qatar. Bei Al-Duhail SC will Dissinger bis Ende Juli vier Titel ho­len und das Abenteuer als Neustart nutzen: „Ich möchte den Spaß am Handball wiederfinden. Ich fühle mich besser als mit 24 oder 25, denn ich habe nicht 70 Spiele im Jahr.“

          Aber Qatar? Dissinger sagt: „Ich habe mit meiner Verlobten, meiner Mutter, meinem Manager und Freunden, die hier waren, gesprochen. Ich weiß, dass ich da­für in Deutschland kritisiert werde. Na­türlich habe ich gelesen, was während der Fußballweltmeisterschaft geschrieben wurde. Sie wurde unter merkwürdigen Be­dingungen vergeben. Aber deswegen ist in Qatar nicht alles schlecht. Ich bin jetzt drei Wochen hier und finde vieles übertrieben. Ich bin in ei­ner fremden Kultur und passe mich an. Wir sind jetzt im Ra­madan, und wir Nichtmuslime sollen tagsüber nichts trinken, nichts essen. Das will ich respektieren.“ Vom Gehalt, sagt er, bewege er sich auf dem Bukarest-Niveau. Seine Verlobte Marija, sein Hund und seine Katze sind dort geblieben.

          2019 gewinnt Christian Dissinger mit Vardar Skopje die Champions League.
          2019 gewinnt Christian Dissinger mit Vardar Skopje die Champions League. : Bild: dpa

          Dissingers Karriere wirkt ungewöhnlich. Als deutsche Spitzenklubs ihn wollten, ging der 202 Zentimeter lange Ludwigshafener 2011 nach Schaffhausen, um in der Champions League zu spielen. Zwei Jahre später schloss er sich Atlético Ma­drid an – obwohl er gerade mit seinem zweiten Kreuzbandriss flachlag. Aber die Handballsparte von Atlético ging pleite. Dissinger fing in Nettelstedt wieder an und geriet 2015 in Alfred Gislasons Blickfeld, der ihn zum THW Kiel holte. Diese Phase war von Verletzungen überschattet, auch im DHB-Team.

          2018 löste Dissinger seinen Vertrag auf, weil er zu wenig spielte – und wechselte nach Skopje, Nordmaze­donien. Dort folgten Jahre im Schleudergang: „In Skopje bekamen wir neun Monate kein Geld. Das hat uns so zusammengeschweißt, dass wir im Juni 2019 die Champions League gewannen. Ich spüre noch manchmal diesen Modus der Euphorie. Aber ich habe im Sommer 2019 nie ge­dacht, dass meine Karriere jetzt durch die Decke geht.“

          Ein anderer Entwurf

          Nun, vor dem Rückspiel in der Champions-League zwischen Kiel gegen Bukarest – in Rumänien gewann der THW 41:28 –, wird Dissinger mit seiner Vergangenheit konfrontiert: „Ich fiebere für die Deutschen, habe aber auch Sym­pathien für andere. Ich habe mit so vielen Spielern verschiedener Länder zusammengespielt.“ Und das sei der größte Schatz seiner Laufbahn: Eine andere Perspektive zu bekommen. Etwa wie Menschen in Nordmazedonien von 300 Euro im Monat leben – und trotzdem zufrieden wirken.

          „Ich erschrecke mich manchmal, wenn ich zurückkomme“, sagt Dissinger, „das Wichtigste für die Deutschen ist die Sicherheit. Jeder arbeitet auf die Rente hin und will noch etwas davon haben. Man macht sich über alles Sorgen, ständig hat man Angst. Dabei gibt es wenige Gründe, in Deutschland ängstlich und sorgenvoll zu sein.“

          Man merkt ihm an, dass sein Entwurf ein anderer ist – auch bezogen auf seinen Sport: „Dem deutschen Handball täte es gut, die Erfahrung aus dem Ausland mitzunehmen. Ich glaube, viele deutsche Profis trauen sich nicht raus, weil sie denken, nicht überall wird pünktlich gezahlt. Es gab in Rumänien und Nordmazedonien Sa­chen, die mich genervt haben. Meine Karriere ist ein ständiges Auf und Ab. Aber ich versuche, Vorurteile auszublenden, meinen Horizont zu erweitern und Leute kennenzulernen.“

          In Qatar genießt er Annehmlichkeiten; Einen Wäscheservice, ein eigenes Auto und Luxushotels. Schicke Malls in der Nä­he, der Strand um die Ecke. Und Bundestrainer Gislason, wie weit ist der entfernt? Einen starken Werfer bräuchte der deutsche Handballbund (DHB) dringend. Im Oktober 2020 verhinderte Corona sein Comeback. Immerhin einen Kurzeinsatz gab es Anfang 2021. Der Kontakt steht al­so. Dissinger schaut nach vorn und sagt: „Ich habe fast eine ganze Saison pausiert. Ich brauche Zeit, um reinzukommen. Aber ich kann durchaus noch auf sehr ho­hem Niveau spielen – auch für Deutschland.“ Insofern ist sein Wechsel nach Qatar eine gute Nachricht. Auch für den DHB. So weit weg ist die Heim-EM 2024 schließlich nicht mehr.

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