Geher-Legende Gauder ist tot : Mann mit drei Herzen
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Sein letzter großer Wettbewerb: Hartwig Gauder verabschiedet sich 1993 bei der WM in Stuttgart vom Gehen. Bild: SvenSimon
Legende des Gehens, glühender Verfechter von Organspenden: Hartwig Gauder wusste in seinem Leben für zwei schwierige Themen zu begeistern. Ein Nachruf.
„Wenn man sagt, ich hab noch 25 Kilometer vor mir, schafft man’s nicht“, sagte Hartwig Gauder über seine innere Haltung auf der längsten Strecke der internationalen Leichtathletik, den 50 Kilometer Gehen. „Ich sage: Ich habe schon 25 Kilometer hinter mir.“ So wurde Gauder Olympiasieger, Weltmeister und Europameister – und in seinem schnellsten Rennen, in Rom 1987, brauchte er für die Distanz, die knapp acht Kilometer länger ist als ein Marathon, nur 3:40:53 Stunden.

Korrespondent für Sport in Berlin.
Doch der größte Erfolg von Gauder, einem Thüringer schwäbischer Herkunft, war es, die Öffentlichkeit für das Gehen, das Walken und Organspenden zu interessieren. Das lag weniger an seinen großen Siegen, sondern vielmehr an seiner gewinnenden Art. Weil er überzeugt davon war, dass er sich im Spitzensport und nach dem Spitzensport für die richtigen Belange engagierte – Erfolg, Gesundheit und Glück durch Bewegung –, setzte er sich mit Charme und Beharrlichkeit und ohne falsche Bescheidenheit dafür ein, selbstverständlich gehörte er dem Vorstand der Organisation Sportler für Organspenden an.
Bei seiner Herztransplantation in Berlin ließ er sich von einem Fernsehteam begleiten; er wollte beweisen, dass Organspenden Leben retten. 42 Jahre lang habe er mit dem eigenen Herzen gelebt, sagte Gauder damals, im Januar 1997, habe fast ein Jahr mit einem künstlichen Herzen überbrückt und wolle mit seinem neuen Herzen genauso lange leben wie mit seinem ersten. Neunzehn Jahre vor dem Ziel, mit 65 Jahren, erlag er nun einem Herzinfarkt. Laut Zeitungsberichten hatte er sich wegen akuten Nierenversagens zuletzt täglicher Dialyse unterziehen müssen und wartete auf ein Spenderorgan.
„Sein Andenken lebt weiter“
„Heute hat Thüringen mit Hartwig Gauder einen seiner begabtesten Sportler und unermüdlichen Streiter für das Thema Organspende verloren“, schrieb der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, am Mittwochabend auf Twitter. „Wir trauern um einen großen Menschen. Sein Andenken lebt weiter.“ Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Jürgen Kessing, würdigte Gauder als „nicht nur eine Geher-Legende und einen großartiger Olympiasieger, sondern eine herausragende Persönlichkeit des Sports“. Trotz großer Erfolge sei er immer am Boden geblieben und 2016 zu Recht in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen worden.
Gauder wurde 1954 in Vaihingen an der Enz geboren, zwischen Stuttgart und Pforzheim. Botschafter der DDR im Trainingsanzug und Held des Sports im Osten wurde er, weil die Familie ins mütterliche Elternhaus in Ilmenau im Thüringer Wald zog, als er sechs Jahre alt war. Ein Jahr später errichtete die DDR die Mauer. Da versuchte sich der kleine Hartwig schon im Skilauf und im Skisprung. Als er mit vierzehn Jahren beim Training der Leichtathleten vorbeischaute, fand er seine Bestimmung. Die Mischung des Gehens aus komplexer Technik – immer mit einem Fuß am Boden bleiben – und olympischer Ausdauer wurde die Herausforderung seines Lebens.
140.000 Kilometer sei er in Training und Wettkampf gegangen, sagte Gauder, das entspricht rechnerisch dreieinhalb Umrundungen der Erde auf dem Äquator und fünfeinhalb Erdumrundungen auf Höhe Deutschlands. Bei seiner ersten Olympia-Qualifikation, der für Montreal 1976, wurde er wegen unsauberer Technik disqualifiziert. Und selbst als er nach einem Comeback, bei den Olympischen Spielen von Barcelona 1992 wurde er Sechster und nahm dann auch noch an der WM 1993 in Stuttgart teil, seine leistungssportliche Karriere beendete, hatte Gauder nicht genug vom Gehen. Er verlegte sich aufs Walken und ging, stets unter Hinweis auf sein Spenderherz, bei den Marathons von New York und Berlin auf die Strecke und erklomm den Fujijama, den Kilimandscharo und das Matterhorn – zum Beweis, dass das Leben auch und gerade mit dem dritten Herzen lebenswert ist.
„Eine Katastrophe“ nannte er den Plan von Weltverband und Internationalem Olympischen Komitee (IOC), nach der Weltmeisterschaft von Eugene (Oregon) 50 Kilometer Gehen aus dem Programm zu streichen. Da werde eine Tradition leichtfertig über Bord geworfen. Das Argument mangelnder Spannung bei diesem Wettbewerb von knapp vier Stunden ließ er nicht gelten.
Simulierter Schwächeanfall
Der Olympiasieg von Moskau 1980, von vielen Staaten des Westens boykottiert, wurde der Höhepunkt seiner sportlichen Laufbahn. Bei glühender Hitze siegte Gauder in seinem erst vierten Rennen auf dieser Distanz nach einem Solo von 18 Kilometern mit zwei Minuten Vorsprung vor Europameister Jorge Llopart aus Spanien. In Seoul 1988 gewann er die Bronzemedaille. Gedankenspielen, dass, hätte der Kampfrichter ihm nicht 1976 die Rote Karte gezeigt und hätte der Ostblock nicht 1984 die Spiele von Los Angeles boykottiert, Barcelona seine fünften Olympischen Spiele geworden wären, hing er nie lange nach.
Wie unorthodox Gauder handelte, zeigt sein Gewinn der Weltmeisterschaft von Rom 1987. Im Training trug er, Europameister von Stuttgart 1986, lange Hosen und mehrere Jacken übereinander und ging, wenn die Sommerhitze am größten war, auch noch in die Sauna. Im Wettkampf dann simulierte er sieben Kilometer vor dem Ziel mit Geröchel und großer Gestik einen Schwächeanfall. Die Konkurrenten, unter ihnen Mannschaftskamerad Ronnie Weigel, ließen sich zu einer Attacke verleiten, bei der sie ihre Kräfte verpulverten. Gauder hielt mit und ging dann scheinbar mühelos an die Spitze. Am Tag darauf dann erkundete er Rom. Da Devisen für Stadtrundfahrt und Taxi zum Colosseum und zum Circus Maximus fehlten, tat Gauder mit schmerzenden Beinen, was er am besten konnte: Er ging.