Renaissance des Medizinballs : Er ist wieder da
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Comeback eines Hassobjekts: Nicht der Medizinball ist böse, sondern die Übung Bild: Rüchel, Dieter
Er war das Hassobjekt unserer Jugend. Generationen von Schülern haben den Medizinball ebenso verflucht wie Fußballprofis unter Felix Magath. Jetzt erlebt das Monstrum ein grandioses Comeback in Fitnessstudios.
Die Objekte unserer kindlichen Begierde waren: Bälle. Wann immer beim Sportunterricht ein Ball ins Spiel kam, ging’s rund. Man konnte ihn nach Herzenslust ins Tor schießen, über ein Netz pritschen, in einen Korb werfen oder andere spaßige Sachen mit ihm anstellen. Die Ballverliebtheit in der Schule endete aber schnell, wenn der Lehrer die falsche Tür des Geräteschranks öffnete und schwere, braune Lederkugeln hervorholen ließ. Der Medizinball erschien Schulkindern als Monstrum, nicht geschaffen für ihre zu dünnen oder zu dicken Ärmchen und ihren zu schwachen Körper. Freudlos waren die vom Lehrer geforderten Übungen, geradezu angst und bange wurde vielen Pennälern wegen dieser doofen Jungs, die den Medizinball als Wurfgeschoss nutzten und damit Mitschüler malträtierten. Kurzum: Die meisten waren froh, als sie Schule und Zirkeltraining hinter sich gelassen und mit der Dreikilokugel nichts mehr zu tun hatten.
Und jetzt das: Er ist wieder da, der Medizinball. Die Abscheu von einst spielt keine Rolle mehr, wenn es um den Fitnesstrend der Stunde geht. Männer und Frauen, junge und ältere, geübte wie ungeübte, treffen sich heute zum „Functional Training“, „CrossFit“ oder „Bootcamp“ im Studio, in der Box oder auf der grünen Wiese. Sie recken sich an Sprossenwänden, strecken sich an Reckstangen, hüpfen über Sprungseile. Und sie wuchten Medizinbälle - freiwillig! „Das ist eine Retrogeschichte“, sagt Pia Pauly, Abteilungsleiterin Sport beim Deutschen Turner-Bund (DTB): „Es kommt ja vieles in Wellen - ob beim Musikgeschmack, bei der Kleidung oder beim Fitnesstraining. Die letzten Jahre ging der Trend zu Hochglanzchrom, jetzt wollen die Leute was anderes.“ Zum Beispiel mit einem alten Hassobjekt hantieren.
Der Ball ist weder gut noch böse
Der Medizinball an sich ist weder gut noch böse. Es sind die Übungen, die besser oder schlechter sind. Die neue Art, die Kugel zur körperlichen Fitness zu nutzen, ist trainingswissenschaftlich eine Wucht. Überkopfwürfe, Druckwürfe, Stützübungen, Medizinballstoßen und -fangen mit Kniebeuge: Alle Übungen, die als Teil des funktionalen Trainings gefordert werden, sind höchst wirkungsvoll. „Wenn man vorher im Fitnessstudio an Kraftmaschinen gearbeitet hat, erlebt man bei Crossfitness sein blaues Wunder“, sagt DTB-Funktionärin Pia Pauly, die für sich selbst die verschiedenen traditionellen Gerätschaften wiederentdeckt hat: „Statt einen Muskel isoliert zu trainieren, müssen ganze Muskelketten zusammenarbeiten.“ Das intensive, schweißtreibende und ein wenig selbstquälerische Training führt dazu, dass es die Muskelketten topfit macht für beschwerliche Alltagsbewegungen. So können Rotationsschwünge mit einem Medizinball darauf vorbereiten, einen Getränkekasten nach dem anderen schier mühelos in den Einkaufswagen zu wuchten. „Wenn man nur eine Hantel nimmt, sieht irgendwann vielleicht der Bizeps gut aus. Aber es bringt mich im Sport und im Alltag nicht weiter“, erklärt Stephan Geisler, Dozent an der Deutschen Sporthochschule in Köln.
Zurückgekehrt ist der Medizinball von dort, wo er seinen Siegeszug um die Sportwelt begonnen hatte: den Vereinigten Staaten. In New York hatte vor 125 Jahren eine Journalistin gestaunt und geschrieben, wie der Boxtrainer William Muldoon seinen Schützlingen unentwegt einen schweren Ball entgegenschleuderte, um Kraft, Beweglichkeit und Reaktionsvermögen zu fördern. Drei Jahrzehnte später wurde der Medizinball hierzulande gebräuchlich. Mit seiner Hilfe sollten Kinder getrimmt, Männerkörper gestählt und Frauen darauf vorbereitet werden, Schwangerschaft und Geburt tüchtig zu überstehen. Zweckorientierte Gymnastik, vaterländischer Drill: An die dunklen Kapitel deutscher Medizinballhistorie erinnerte im vorigen Jahr eine Ausstellung, die den „Vollball“, wie er früher hieß, in Ingolstadt und Halle/Saale als „Grenzgänger zwischen Sport, Medizin und Politik“ präsentierte.