Kommentar : Weder lesen noch schwimmen
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Der lateinische Poet Horaz kannte sich nicht nur mit den Wonnen der Dichtkunst ziemlich gut aus, sondern er war auch in Sachen Leibesübung ein Fachmann. Gegen Schlaflosigkeit empfahl Horaz, dreimal durch den Tiber zu schwimmen.
Der lateinische Poet Horaz kannte sich nicht nur mit den Wonnen der Dichtkunst ziemlich gut aus, sondern er war auch in Sachen Leibesübung ein Fachmann. Gegen Schlaflosigkeit empfahl Horaz, dreimal durch den Tiber zu schwimmen. Für die alten Römer war das nichts Besonderes. Sie hatten ohnehin ein ganz spezielles Verhältnis zum Wasser, und Schwimmen war für die meisten ein elementarer Bestandteil des Lebens. Wenn die Römer einen besonders ungebildeten Menschen trafen, sagten sie über ihn: "Der kann weder lesen noch schwimmen."
Daß Bildung auch etwas mit dem Körper zu tun hat, ist im Deutschland von heute leider in Vergessenheit geraten. Sonst würden sogenannte Bildungspolitiker nicht gnadenlos den Sportunterricht in den Schulen zusammenstreichen. Auch die Pisa-Studie belegt unbewegt die Defizite des Geistes, und von Schwimmen ist darin erst recht keine Rede. Dabei wäre eine Pisa-Studie des Sports eine lohnende Untersuchung. Sie würde nämlich Erschreckendes ans Tageslicht bringen. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid können über 23 Prozent der Deutschen nicht schwimmen. Noch alarmierender sind die Zahlen bei Kindern unter vierzehn Jahren. Nach den Angaben ihrer Eltern können nur noch zwei Drittel von ihnen schwimmen. Man braucht nicht viel Phantasie, um die Ursachen dafür zu finden. In vielen Bundesländern sank über Jahre hinweg die Zahl der wöchentlichen Sportstunden; den ohnehin aufwendigen Schwimmunterricht traf es besonders. Außerdem können und wollen sich viele Kommunen in Zeiten finanzieller Not die teuren Schwimmbäder nicht mehr leisten. Vielerorts werden Hallenbäder geschlossen. Auch die sogenannten Spaß-Bäder, die überall entstanden sind und entstehen, sind oft nicht der rechte Platz fürs Schwimmen. Ganz simple, rechteckig geschnittene Becken, in denen man nichts als schwimmen kann, gibt es in vielen dieser Wasser-Tempel kaum noch.
Dabei macht Schwimmen erst dann Spaß, wenn man es richtig kann. Insofern muß man selbst die 77 Prozent der Bevölkerung, die sich als Schwimmer bezeichnen, relativieren: Sie glauben, schwimmen zu können. Wer regelmäßig in öffentlichen Bädern schwimmt, leidet unter den vielen Zeitgenossen, die in Rückenlage mit Schaufelradtechnik durchs Wasser pflügen oder sich mit überstreckter Wirbelsäule und geschertem Beinschlag im Bruststil fortbewegen. Dabei ist Brustschwimmen nicht nur unökonomisch und - im Falle falscher Ausführung - belastend für Gelenke und Wirbelsäule; es ist auch die schwierigste Schwimmart.
Insofern wäre es ein Segen, sollte eine Prominente wie Franziska van Almsick ihre Popularität in Deutschland für eine - längst überfällige - Revolution des Schwimmenlernens einsetzen. Nach dem Ende ihrer Laufbahn hat sie angekündigt, eine Schwimmakademie gründen zu wollen. Ihr Ziel ist es, Kindern auf spielerische Art das Kraulschwimmen beizubringen. Nur wer richtig kraulen lernt, dem öffnen sich die Türen zum Schwimmer-Glück. Das Vorbild ist der fünfte Kontinent. Die Australier sind ein Volk von Kraulern, für sie gehört das Schwimmen zum Leben. Auch wenn die meisten von ihnen vermutlich noch nie etwas von Horaz gehört haben.
Gerd Schneider