Kritik an Mammut-Turnier : „Die Zeit im Fußball ist reif für eine Rebellion“
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Alle reißen sich um den WM-Pokal – ab 2026 sind es 48 Mannschaften. Bild: Picture-Alliance
Wie sieht der Fußball der Zukunft aus? Welche Rolle spielen China, Qatar und Russland? Und wie verändert eine WM mit 48 Nationen das Wesen dieses Sports? Der Philosoph Gunter Gebauer ist ein Kritiker des Mammut-Turniers – und attackiert die Funktionäre.
Gunter Gebauer gehört seit Jahrzehnten zu den großen Denkern und Kennern des Sports. Der 1944 in Timmendorfer Strand geborene Philosoph, Sportwissenschaftler und Linguist hält seit 1978 den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. 1993 wurde er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. Im vergangenen Jahr erschien Gebauers jüngstes Sportbuch: „Das Leben in 90 Minuten: Eine Philosophie des Fußballs“.
Ein Blick voraus: Die WM 2030 findet mit 48 Mannschaften in China statt - wie sieht der Fußball der Zukunft aus?
China wird den Fußball und den Weltsport tiefgreifend verändern. Den chinesischen Anspruch auf Führerschaft wird man im Weltsport und seinen Verbänden nicht mehr zurückweisen können. Je mehr Geld das Land in den Fußball und den Sport investiert, je stärker es seine nationale Darstellung durch sportliche Großereignisse unterfüttert und den eigenen Nationalismus mit Blick auf eine starke chinesische Nation fördert, desto weniger ist es möglich, Chinas Einfluss im Weltsport aufzuhalten. Das Land ist schon auf dem besten Weg dorthin. Wenn die von der Staatsspitze stark kontrollierte und mit dem weltweit größten Kapitalvermögen ausgestattete Entwicklung so weitergeht, werden immer mehr große Sportereignisse nach China wandern, von der Champions League bis zur Fußball-Weltmeisterschaft und Olympia. Im Fußball wird China nicht eher ruhen, bevor es eine Weltliga geschaffen hat, die von chinesischen Interessen und Entscheidungen bestimmt wird. Das bedeutet: Der Fußball wird von dem Fußball, den wir heute kennen, sehr weit weg sein.
Der Fußball setzt alles daran, sich auszudehnen. Von 2026 an wird die WM auf 48 Nationen erweitert. Wissen die Funktionäre eigentlich, was sie tun - und was das mit dem Fußball macht?
Die Funktionäre handeln nur vordergründig. Die Vergrößerung dient allein dem Ziel, mehr Geld zu generieren und den Fußball weiter auszubreiten. Bisher war eine WM eine Exzellenz-Messe, nun wird sie zu einem universalen Marktplatz. Nur ganz wenige Länder werden sie überhaupt noch schultern können mit dieser Menge an Sportlern, Betreuern, Fans, Journalisten und Politikern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Fifa-Präsident Infantino einen Plan hat, wie es nach der ersten oder zweiten WM, die vermutlich in den Vereinigten Staaten und China stattfinden werden, mit so vielen Teilnehmern weitergehen kann. Und rein sportlich betrachtet, werden diese Weltmeisterschaften große Strecken der Langweile hervorbringen. Fußball kann Langeweile aber nicht gut vertragen. Wenn das Interesse am Fußball erhalten bleiben soll, ist er auf Spannung angewiesen. Fußball ist weltweit einer der größten und besten Lieferanten von Spannung und Drama. Wenn man die WM und damit die Spiele verwässert, wird der größte Trumpf des Fußballs zäh, klebrig und langgezogen wie Kaugummi.
Die Macht- und Geldbesitzer aus Russland (WM 2018), Qatar (2022) und China (Favorit 2030) prägen den Fußball immer stärker. Kann Europa seine Macht im Sport verteidigen?
Das ist Wunschdenken der Verbände. Ich vergleiche das mit dem Ritt auf dem Rücken eines Tigers. Im Moment sind sie noch davon überzeugt, den Tiger im Zaum zu halten - und die Macht behalten zu können. Ich glaube, das ist ein Irrtum. Infantino bei der Fifa und Bach beim IOC haben als europäische Vertreter zwar den Hut auf. Aber beide machen schon jetzt enorme Konzessionen vor allem an die Länder Ostasiens. Es findet eine Zangenbewegung statt. Die Verbände kommen den Wünschen dieser Länder als Zahlmeister nach - und auf der anderen Seite gibt es enorme Investitionen aus China und dem arabischen Raum in große europäische Klubs in Madrid, Mailand oder Manchester. Es findet ein gleitender Übergang der Macht im Weltsport in Richtung Asien, vor allem China, und des arabischen Raums statt. Auch die Kontrolle des Fußballs und des IOC wird in diese Richtung wandern.
Was werfen Sie Fifa und IOC angesichts der Entwicklungen vor?
Wie ihre Vorgänger haben Infantino und Bach die Devise ausgegeben, dass sie die Verbände vor allem unter finanziellen Gesichtspunkten führen. Sie haben sich dem reinen Materialismus ausgeliefert. Das heißt: zur Bereicherung Einzelner und zur Investition in den Sport - und damit auch als Angebot an reiche Länder, viel Geld zur Verfügung zu stellen, um den Fußball beziehungsweise olympische Sportarten für ihre symbolische Darstellung mit gigantischen Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen zu verwenden. Beide Verbände haben verpasst, ihre eigene sportliche Identität zu sichern. Sie haben nicht festgelegt, was den Kern des Fußballs und den Kern von Olympia ausmacht. Da wird immer etwas von Werten gefaselt, aber keiner weiß, welche das sind. Im Fußball droht nun auch der Grundgedanke verlorenzugehen: was die Spannung, den Reiz dieses Spiels ausmacht.
Erleben wir gerade das Verschwinden eines Sehnsuchtsorts, den Anfang vom Ende des Fußballs als beliebteste Sportart der Welt?
Wenn man die Tore so weit aufmacht, verliert zumindest der Sehnsuchtsort WM an Attraktivität. Die Gefahr ist groß, dass das Interesse an der WM erlahmen wird. Man hat das ja schon am Ende bei der EM so empfunden. Sie war belangloser und hat uns nicht mehr so erschüttert. Es ist jetzt auch keine besondere Auszeichnung mehr, wenn man bei einer WM mitmacht. Aber kurz- und mittelfristig wird in Deutschland das Interesse daran nicht völlig verschwinden, dafür ist die Nationalmannschaft ein viel zu starkes Symbol für uns. Wir haben bisher auch kein Ersatzsymbol. Deutschland verfolgt keine nationale Großmachtpolitik und besitzt wenig symbolische Präsenz in der Welt. Es wird ein langsamer Prozess des Erlahmens sein, den man aber prognostizieren kann, wenn die WM zu einem Markt mit folkloristischen Zügen verkommt, bei der eher die Frisuren und Kostüme faszinieren werden als große Fußballspiele.
Die Fifa bewertet es dagegen als besonders positiv, dass die WM nun für viele Länder geöffnet und für mehr Menschen erlebbar wird.
Wir haben es hier mit einem falschen Begriff von Weltmeisterschaft zu tun. Sport für alle ist gut - bei Gesundheitssport, Freizeitsport, Altensport, Schulsport. Aber nicht im Hochleistungssport. Eine WM ist wie eine Weltausstellung, wo nur die Spitzenprodukte des Erfindungsgeistes und des Industriefleißes der besten Länder gezeigt werden. Jetzt dürfen aber auch die Bastlerwerkstätten auftreten. Darauf hat niemand Lust. Wenn man die Buntheit und Vielfalt der Welt im Fußball vorführen will, macht man das besser mit einem Unicef-Fußballfest. Das ist auch sehr schön, hat aber mit einer WM nichts zu tun. Es handelt sich außerdem um eine Fehlkalkulation. Die Mannschaften, die bisher keine Chancen hatten, bei einer WM dabei zu sein, weil sie nicht gut genug sind, freuen sich zwar über die Teilnahme. Aber wenn sie nach zwei Spielen mit null Punkten und einer Tracht Prügel nach Hause fahren, werden auch sie daran kein Vergnügen mehr haben.
Länder wie Qatar, China und Russland, die den Sport für ihre Zwecke nutzen, haben einen klaren Plan und klare Ziele. Werden sie aufgehen?
Qatar baut sich aus geostrategischen Gründen als Sportgroßmacht auf. Nicht nur der Fußball, auch Handball, Schwimmen, Leichtathletik oder Tennis laufen der Verlockung des Geldes nach. Qatar kauft sich zudem internationalen Sportsachverstand ein und setzt diesen in sinnvolle Pläne um. Damit bauen sie den Standort symbolisch auf, durchaus nicht ungeschickt. Das kleine Qatar in seiner schwierigen geopolitischen Lage ist ständig präsent und macht von sich reden. Das ist die eine, sportliche Seite des qatarischen Plans. Zum anderen lassen sie große Museen durch die besten Architekten bauen, sie gewinnen bekannte Wissenschaftler und bauen einen eigenen Universitätsstandort auf. Mit dieser Symbolpolitik will Qatar Macht gewinnen. In China geht alles noch viel weiter. China hat als Weltmacht den Anspruch, das Geschehen auf der Welt in bestimmten Bereichen zu beeinflussen. Das geht im Sport ähnlich leicht wie in der Kunst und der Wissenschaft. Dafür braucht man allerdings auch immer eine gewisse Freiheit. Deswegen kommen China, aber auch Russland in bestimmten Bereichen trotz gewaltiger Anstrengungen nicht so richtig voran.
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Wo liegen Begrenzungen dieser autoritären, diktatorischen Staaten?
Es ist kein Zufall, dass die besten Fußballmannschaften aus Europa stammen und der beste Fußball in Europa gespielt wird. Fußball braucht und ist gebunden an eine gewisse soziale und kulturelle Umgebung, an eine Stadtkultur. Besonders prominente Städte gehörten immer schon zu den Orten, wo der beste Fußball gespielt wird: Madrid, Barcelona, München, Mailand, Turin, London. Die Renationalisierung Russlands und das „Make Russia great again“ klappt im Fußball jedenfalls überhaupt nicht. Der russische Fußball liegt am Boden, so schlecht war er seit Jahrzehnten nicht. Die Größe des russischen Sports besteht vor allem darin, dass er eine gewaltige Doping-Unkultur eingeführt hat und damit den olympischen Sport destabilisiert.
Topfußball, so wie wir ihn kennen, soll nur in bestimmten Gegenden der Welt möglich sein?
Zumindest in seiner Lebendigkeit. Fußball, der fasziniert, braucht zudem ein möglichst homogenes, an ein solides und taktisches Spiel gebundenes Team, in dem sich auch herausragende Stars mit unvorhergesehenen Aktionen entwickeln - und dennoch alle miteinander in einem starken Mannschaftsgedanken verbunden sind. Sozusagen eine Mischung von Arbeit und Genie. Das ist typisch für europäische und südamerikanische Kultur. Dass Mannschaften, die das fertigbringen - wie Barcelona, Real und Atlético Madrid oder auch der FC Bayern und Dortmund in besten Zeiten - weltweit bewundert werden, liegt auf der Hand. Nur: Man kann das nicht in einer chinesischen Multimillionenstadt oder der Wüste selbst erschaffen. Es geht auch um Dinge, die von der Regionalkultur und der des Landes entscheidend beeinflusst werden.
Der DFB ist gegen die WM-Erweiterung. Aber ein Plan, dass sich die 30, 40 wichtigsten Fußballnationen in einem neuen Verband zusammenschließen, um eine WM zu organisieren, die alle sehen wollen - nämlich alle vier Jahre mit höchster Qualität -, ist nicht in Sicht.
Das wäre eine vernünftige Reaktion auf die Entwicklung: Gegenwehr zeigen. Europa ist ja bestimmend für die Qualität des Fußballs, hier spielen und werden die besten Profis geformt, Südamerika sollte man da noch hinzunehmen. Ich befürchte nur, dass niemand, der den deutschen Fußball vertritt, den Mumm aufbringt, gegen die Fifa zu rebellieren. In Europa sieht es auch nicht viel besser aus. Unsere aktuellen und vergangenen Verbandspräsidenten haben jedenfalls nie starkes Rückgrat gezeigt. Das wird nun auch gegenüber Infantino nicht anders sein, obwohl es bei der brutalen Machtpolitik des Präsidenten dazu allen Grund gäbe. Der Fußball erscheint wie ein wildgewordener Hund, der nur noch dem Geld hinterherhetzt. Er muss wieder angebunden werden. Aber ein so angepasster DFB-Präsident, der es Profis und Amateuren recht machen muss, der mit der Fifa und Uefa klarkommen will und der es aus der Politik gewohnt ist, den Buckel ein bisschen krumm zu machen, wird keine Zähne zeigen. Dabei ist die Zeit im Fußball reif für eine Rebellion.
Serie: Wohin rollt der Ball?
Die Erweiterung der Weltmeisterschaft auf 48 Nationen ist eine Zäsur. Der Fußball zündet eine neue Stufe auf dem Weg zu Globalisierung und Gigantismus. Die großen Chancen, aber auch die gewaltigen Gefahren, die in den einschneidenden Veränderungen für das größte Spiel der Welt liegen, wollen wir in den kommenden Monaten in einer Serie aus unterschiedlichen Perspektiven debattieren. Immer geleitet von der Frage: Wohin rollt der Fußball?