Lieberknecht von Darmstadt 98 : Ein Trainer als Alphatier und Sympathikus
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In dieser Spielzeit haben Torsten Lieberknecht und die „Lilien“ erst ein Spiel verloren. Bild: picture alliance/dpa
Torsten Lieberknecht hat das lang anhaltende Hoch bei Darmstadt 98 nicht nur initiiert, sondern versteht es auch klug und authentisch zu moderieren. Was der Pfälzer auch anpackt: Es gelingt fast alles.
Wenn der Profifußball, wie er oft bebildert wird, ein Haifischbecken ist, dann hat Torsten Lieberknecht für sich und seine Darmstädter darin einen kleinen Schutzraum geschaffen. In dem er schalten und walten kann. In dem er den Spielern und Fans zugewandten Erklärer gibt, ohne Zweifel an seiner Richtlinienkompetenz zu lassen. In dem er ganz natürlich Alphatier und Sympathikus zugleich sein kann. In dem er je nach Anlass wechseln kann zwischen jugendlicher Begeisterung und der Gefasstheit eines alten Fahrensmanns im Geschäft.
Der Trainer Lieberknecht hat das lang anhaltende Hoch beim SV Darmstadt 98 nicht nur initiiert, sondern versteht es auch klug und authentisch zu moderieren. Wofür gute Bedingungen herrschen in dem eher geruhsamen südhessischen Umfeld des Klubs. Und wofür das enorm hohe Ansehen, das der erklärte Fußballromantiker und Menschenfänger vom Böllenfalltor bei den Anhängern genießt, extra hilft. Seit der Ankunft Lieberknechts beim SVD vor anderthalb Jahren hat die Mannschaft von 53 Zweitligapartien 30 gewonnen, 42 blieb sie unbesiegt.
„Ein Spiel, das elektrisiert“
Aktuell sind es gar 20 Pflichtspiele in Serie, die der Tabellenführer nicht verloren hat. Darin eingerechnet zwei Pokalerfolge, welche die Darmstädter ins heiß erwartete Achtelfinal-Derby bei der Frankfurter Eintracht an diesem Dienstagabend (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zum DFB-Pokal, in der ARD und bei Sky) führten. „Ein Spiel, das elektrisiert“, so Lieberknecht. Und eins, in dem „wir ein Spiel abliefern wollen, dass einem Derby gerecht wird“.
Dass seine Profis kompakt und kampfstark agieren, zeigen sie nicht auf nur auf großer Bühne wie eine Pokalrunde zuvor beim Sieg über Borussia Mönchengladbach, sondern auch konstant und ergiebig im Tagesgeschäft – wie jüngst beim 4:0-Auswärtserfolg in Sandhausen.
„Lasst euch anheizen“
Was Lieberknechts „Lilien“ 2022/23 mehr als zuvor auszeichnet, ist, dass sie als Kollektiv eine Stabilität und Selbstverständlichkeit ausstrahlen, die sie – trotz anhaltender Personalprobleme – kaum störanfällig macht. Sie erzielen kaum mehr glanzvolle, torreiche Siege wie in der Vorsaison, sondern ziehen die Spiele mit beharrlicher, gut abgestimmter Arbeit auf ihre Seite.
Kurzum: Die SVD-Profis, von denen kaum einer auf glanzvolle Jahre anderswo zurückschauen kann, wissen, was sie können und halten sich genau daran. „Wir brauchen eine gewisse Sicherheit auf dem Platz. Trotzdem lieben wir den Fußball und spielen dafür“, sagte Lieberknecht mit Blick auf das Pokal-Highlight gegen den großen Nachbarn mit Champions-League-Zugehörigkeit. „Daher sage ich den Jungs: Lasst euch treiben und anheizen von der Atmosphäre. Wir wollen Spaß an diesem Spiel entwickeln.“
Der 49-jährige Lieberknecht, dessen Trainerkarriere nach seiner Entlassung in Duisburg auf einem Drittliga-Abstiegsplatz vor seinem Darmstädter Engagement eine kräftige Delle abbekam, hat reichlich Erfahrung im Aufstiegskampf, aus zehn Jahren bei Eintracht Braunschweig. Den niedersächsischen Traditionsklub hatte Lieberknecht aus der dritten in die erste Liga geführt, an seinem letzten Arbeitstag unter dramatischen Umständen aber auch wieder in der dritten Liga abgeliefert.
Was der Pfälzer bislang in Südhessen auch anstellte, fast alles gelang. Ob es in der vorigen Spielzeit die Idee war, den beiden groß gewachsenen, aber weithin unbekannten Luca Pfeiffer und Philipp Tietz gemeinsam den Angriff anzuvertrauen – zusammen kamen sie auf 32 Tore. Oder in dieser Spielzeit aus der personellen Not heraus den regelrechten Wirbelwind und Fußball-Anarcho Braydon Manu in die Sturmspitze zu schieben – es gelingt. Dazu hat Lieberknecht, der mit seiner Art, seinem Pfälzer Idiom und seinem Zettel und Stift auf dem Trainingsplatz mitunter eher wie ein klassischer Motivator der alten Fußballlehrerschule wirkt, seiner Equipe eine wirkungsvolle taktische Variabilität vermittelt.
Kombiniert mit dem von den Spielern gerühmten Gemeinschaftsgefühl steht für Darmstadt 98 mitsamt ihres neugebauten Stadions die Tür zur Bundesliga weit offen. Zumal sie sich nicht wie in der vergangenen Saison mit Werder, Schalke und dem HSV um die Aufstiegsränge wetteifern, sondern neben den Hamburgern nur noch Verfolger wie Heidenheim und Kaiserslautern auf Distanz halten müssen. Zumal die beiden Auftaktsiege 2023 (6:0 Tore) den Vorsprung auf Rang vier bei sieben Punkten hielten. Die Voraussetzungen für eine mögliche Ära im Darmstädter Biotop sind längst geschaffen.