Dettmar Cramer wird 90 : Zwei Gläser Cognac für Kalle
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Mit dem „Professor“ kann er leben: Dettmar Cramer 2010 in München Bild: dpa
Der letzte Vertraute von Sepp Herberger wird an diesem Samstag 90 Jahre alt: Dettmar Cramer, der pragmatische Professor des deutschen Fußballs, hat den Boden bereitet für den FC Bayern des Pep Guardiola.
Die Stimme hat ein wenig an Kraft verloren, doch der Klang und Duktus sind vertraut und klar wie immer. Dettmar Cramer, am Telefon daheim in Reit im Winkl, bedankt sich für das Interesse, bittet aber um Verständnis – er möchte kein Interview mehr geben. An diesem Ostersamstag wird er neunzig Jahre alt.
Als der letzte Vertraute von Sepp Herberger, dessen Assistent er 15 Jahre lang war, und der letzte noch lebende Trainer aus der ersten goldenen Ära von Bayern München ist Cramer der Taufpate der beiden großen Aufstiegsgeschichten des deutschen Fußballs. Der des Nationalteams zur Weltgeltung mit dem „Wunder von Bern“ 1954. Und der des FC Bayern zum Weltklub durch die drei Europapokalsiege von 1974 bis 1976, von denen Cramer zwei mitgewann.
Eine buchstäbliche Weltkarriere
Wer einmal seinen Schilderungen zuhörte oder seinen Lebenslauf studierte, steht vor einem Fußballleben, so prallvoll wie kaum ein anderes. Dettmar Cramer ist eine wandelnde Weltkarte des Fußballs auf 1,65 Metern. Deutschland allein war dem gebürtigen Dortmunder, der schon mit 16 Jahren bei einem Jugendlehrgang 1941 den damaligen Reichstrainer Herberger kennenlernte, nie genug, der Trainerjob allein auch nicht. Herberger, der ihn nach dem Krieg als Trainer zum Westdeutschen Fußballverband und als Helfer zur Nationalelf holte, schien das zu ahnen, als er sich nicht für Cramer, sondern für Helmut Schön als seinen Nachfolger entschied – und Cramer stattdessen nach Japan schickte, wo man um deutsche Fußball-Entwicklungshilfe ersucht hatte.
Es war der Beginn einer Weltkarriere im buchstäblichen Sinne. In ihrem Verlauf war Cramer als Trainer, Ausbilder, Berater und Dozent nach eigener Zählung in rund neunzig Ländern tätig. Besonders Japan, dessen Team er 1968 mit Olympia-Bronze zum ersten großen Erfolg führte, wurde ihm zur zweiten Heimat, wo man ihn heute als „Vater des japanischen Fußballs“ feiert. In einem Werbespot erzählte Cramer vor fünf Jahren, wie er einst den Fußball nach Japan brachte – Teil der Kampagne „Jeder hat etwas, das ihn antreibt“, die zur erfolgreichsten Werbung des Jahres 2009 gewählt wurde.
Als seine „schönste Zeit“ bezeichnet er aber die drei Jahre in München. Als er im Januar 1975 Nachfolger des entlassenen Udo Lattek wurde, der dreimal nacheinander die Meisterschaft und nur ein halbes Jahr vorher den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte, war die Säbener Straße vermintes Gelände. Einem großen Teil der Fans, Medien, Funktionäre und Spieler galt Cramer nicht als willkommen. Nach dem smarten Kommunikator Lattek hatte der spröde Fachmann Cramer einen schweren Start.
Es half ihm die alte Bindung zu Franz Beckenbauer, den er einst nach einem DFB-Jugendlehrgang dem Chef empfohlen hatte („Herr Herberger, hier ist einer, der wird besser als Fritz Walter!“ Antwort: „Dettmar, das gibt’s nicht.“). Und den Cramer später vor dem Rauswurf aus der Jugend bewahrt hatte – die Funktionäre hatten Beckenbauer für untragbar gehalten, weil er mit 18 Jahren schon Vater eines unehelichen Kindes war. Zwölf Jahre später konnte „Kaiser Franz“ seinem Trauzeugen Cramer das Vertrauen zurückzahlen und ihn als Trainer stärken.
Der FC Bayern bestand damals aus Spielern, die alles gewonnen hatten, ein saturiertes Erfolgsteam in innerer Auflösung. Cramer hielt es zusammen, zumindest für die besonderen Spiele, für den Europapokal, den er 1975 und 1976 gewann, bis heute der einzige deutsche Trainer, der Europas wichtigste Vereinstrophäe erfolgreich verteidigen konnte. Im Alltag der Liga dagegen begann mit Cramers erster Saison die immer noch längste Durststrecke der Bayern seit ihrem Bundesliga-Aufstieg 1965 – fünf Jahre ohne Meistertitel. Seine kuriose Karriere-Bilanz: Weltpokal einmal gewonnen, Europapokal zweimal, deutsche Meisterschaft nie.
Zielscheibe für Spott und Schmäh
Während Beckenbauer am Ende der Cramer-Zeit schon weg war und die meisten anderen Spitzenspieler bereits im absteigenden Teil der Karriere, hinterließ der Trainer den Bayern wenigstens den nächsten Weltstar, den jungen Rummenigge – dem er vor dem Europapokalfinale 1976 in Glasgow zur Beruhigung zwei Gläser Cognac eingeflößt hatte, mit Erfolg.
Das war die gern übersehene pragmatische Seite des Trainers Cramer. Meist legte man ihn auf das Klischee des „Fußball-Professors“ fest. Mit der kleinen, drahtigen Erscheinung des Fitness-Fanatikers und früheren Boxers und Fallschirmspringers, mit den mächtigen, keilförmigen Koteletten und der fein ziselierten Rhetorik war er eine dankbare Zielscheibe für Spott und Schmäh. Er beförderte das selbst, indem er sich von Beckenbauers fotografierender Freundin Diana Sandmann in historischer Uniform, Zweispitz und Feldherren-Pose im Olympiastadion ablichten ließ, ein Bild, das ihm den Spitznamen „Napoleon“ einbrachte. Es ärgerte ihn, weil es gar nicht seinem Charakter entspreche: „Für mich war es ein Karnevalsscherz.“
Mit dem „Professor“ dagegen kann er leben, nicht zuletzt, weil er es auch ist. Neben hohen Orden in mehreren Ländern und dem Status als Ehrenhäuptling der Mohikaner und Sioux besitzt Cramer auch zwei Titel als Professor ehrenhalber. Doch in Bayern-Tagen hat ihm seine Art, Sätze zu sagen wie „Fußball ist ein Spiel aus Raum und Zeit“, die Arbeit nicht leichter gemacht. „Am Ende haben wir alle das Abitur, aber keine Punkte“, tönte Präsident Neudecker kurz nach Cramers Verpflichtung.
Hinter solchen Sprüchen verbirgt sich die uralte Aversion der Fußball-Populisten gegen die Bedeutung von Bildung und Detailwissen in diesem populären Spiel. Es ist seit jeher bequem, zu behaupten, Fußball sei ein ganz einfaches Spiel, wenn man in Wirklichkeit dessen komplexe Seiten nicht versteht. „Damals hat man sich eben suspekt gemacht, wenn man drei gerade Sätze am Stück formulieren konnte“, sagte Cramer dreißig Jahre später.
Mittlerweile hat sich das geändert. Pep Guardiola ist ein größerer Tüftler und Denker des Fußballs, als es je ein anderer Bayern-Trainer war, mehr auch als Cramer. Aber niemand tut heute noch solche Trainer als „Professor“ ab, als angeblich weltfremde Akademiker. Es sind mittlerweile die Sprücheklopfer, die Verkünder allzu simpler Fußballweisheiten, die sich verdächtig machen. Dettmar Cramer, der Neunzigjährige, hat den Boden bereitet für den FC Bayern des Pep Guardiola.