Von Löw zu Flick : Der erstaunliche Wandel der Nationalmannschaft
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Es wird wieder herzlich gelacht: Thomas Müller und Kollegen beim Sieg über Liechtenstein Bild: dpa
Die Verabschiedung von Joachim Löw erinnert an die Vergangenheit des DFB-Teams. Beim 9:0 gegen Liechtenstein zeigt sich die Zukunft. Die Trend- und Stimmungswende ist dem neuen Bundestrainer gelungen.
An diesem grauen Novemberabend 2021 in Wolfsburg, an dem die Nationalmannschaft unter Bundestrainer Hansi Flick mit einem 9:0 gegen Liechtenstein den nächsten Schritt tat, um die Zukunft für den deutschen Fußball zu gewinnen, war die deutsche Fußball-Vergangenheit allgegenwärtig.
Hinter dem Tor, wo die Mitglieder der vielleicht biedersten Fanvereinigung des Landes, des sogenannten Fan Club Nationalmannschaft, den Ton angeben, hing zur Verabschiedung von Flicks Vorgänger ein Plakat, das den Weltmeistertrainer Joachim Löw in eine Reihe mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer stellte, ein Bogen von 1936 bis 2021.
Zur Abschiedsfeier des Tages war in Wolfsburg auch über ein halbes Dutzend Weltmeister von 2014 zum Spalier für Löw erschienen: Miroslav Klose, Lukas Podolski, Per Mertesacker, Sami Khedira, Benedikt Höwedes, Mats Hummels und Julian Draxler. Und auf dem Platz, wo es um die Gegenwart und Zukunft ging, waren beim hohen Sieg ja auch noch die beiden Weltmeister Manuel Neuer und der zweifache Torschütze Thomas Müller mit dabei.
„Ein Traumtor“ von Baku
Aber selbst der frühere DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, der die Öffentlichkeit seit seinem Rücktritt vor sechs Jahren meidet, erschien zur Feier des Tages für Löw noch einmal im Stadion. Er saß während des Spiels neben dem früheren Bundestrainer auf der Haupttribüne. Protokollarisch fiel unter diesen Umständen die Abwesenheit von seinen früheren Spielführern auf, von Bastian Schweinsteiger und Phillip Lahm, der als Turnierdirektor der EM 2024 in Deutschland in Diensten des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) steht.
Lahm hätte an diesem Abend, wo sich Vergangenheit und Zukunft auf Schritt und Tritt begegneten, auch schon ein paar Kandidaten sehen können, die für den deutschen Fußball in drei Jahren im eigenen Land eine Rolle spielen könnten, allen voran die beiden Wolfsburger Ridle Baku und Lukas Nmecha. Der 23 Jahre alte Baku erzielte mit dem 7:0 sein erstes Länderspieltor im dritten Länderspiel. Ein „Traumtor“, wie Flick lobte.
Der 21 Jahre alte Nmecha, ein Stoßstürmer moderner und seit Jahren im deutschen Spiel vermisster Prägung, gab in der zweiten Halbzeit sein Debüt. Bundestrainer Hansi Flick, der die Fähigkeit besitzt, aus jeder Situation das Beste machen zu wollen, gab damit auch den Corona-Einschlägen, die in den vergangenen Tagen rund um die Nationalmannschaft im Mittelpunkt der Diskussion standen, einen neuen Dreh: „Wenn man neue Spieler sehen will, braucht man ein bisschen Platz im Kader. Den haben wir jetzt natürlich bekommen Anfang der Woche.“
„Jeder will in die Mannschaft“
Flick sagte das ganz ohne Ironie. In Wolfsburg fehlten Niklas Süle, der sich mit dem Virus infiziert hat, sowie Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Jamal Musiala und Karim Adeyemi, die als Kontaktperson 1 eingestuft wurden und sich ebenfalls in Quarantäne begeben mussten.
„Wir freuen uns über diese Qualität, die wir haben. Jeder Einzelne ist da und will in diese Mannschaft rein“, fuhr der Bundestrainer mit Blick auf seinen Kader und die nachnominierten Spieler in seiner Gegenwartsanalyse fort. „Das macht es uns Trainern natürlich relativ einfach. Deswegen ist es für uns wichtig, dass jeder die Art und Weise, wie wir Fußball spielen wollen, mitgeht. Und das Gefühl haben wir.“
Dass dieses Gefühl rund um die Nationalmannschaft im Herbst 2021 wieder vorhanden ist, und sich auch auf die Zuschauer überträgt, ist der erfreulichste und erstaunlichste Wandel innerhalb kürzester Zeit. Vor vier Monaten war Löw mit der Nationalelf bei der Europameisterschaft schon früh an Grenzen gestoßen, für sich selbst hatte er schon zuvor nach einigen bitteren Niederlage keine Zukunft mehr als Bundestrainer gesehen.
Seinem Nachfolger hatte Löw auch eine Nationalmannschaft übergeben, die nach drei WM-Qualifikationsspielen im März 2021 nur auf Platz drei der Gruppe J gestanden hatte, hinter Tabellenführer Armenien und Nordmazedonien. Flick schaffte mit seinen Spielern dennoch als erstes Team die Qualifikation zur Weltmeisterschaft, vor dem letzten Spiel an diesem Sonntag (18.00 im F.A.Z.-Liveticker zur WM-Qualifikation und bei RTL) in Armenien beträgt der Vorsprung auf den Tabellenzweiten Nordmazedonien neun Punkte. Und mit dem 9:0 gegen Liechtenstein stellte Flick einen neuen Startrekord auf. Sechs Siege in den ersten sechs Spielen waren zuvor noch keinem Reichs- oder Bundestrainer gelungen, weder Herberger, Schön, Beckenbauer noch Löw.
Auf diese statistische Spielerei muss man allerdings nicht allzu viel geben, wenn die Gegner Liechtenstein (9:0 und 2:0), Armenien (6:0), Island (4:0), Rumänien (2:1) und Nordmazedonien (4:0) heißen. Zumal Liechtenstein am Donnerstag früh in Unterzahl geriet durch einen frühen Platzverweis nach einem heftigen Foul an Leon Goretzka. Der ist beim Spiel in Armenien ebenso nicht dabei wie Torwart Manuel Neuer und Marco Reus. Beide reisen „aus Gründen der Belastungssteuerung“ nicht mit. Antonio Rüdiger ist zudem gelb-gesperrt.
Doch so viel ist im November 2021 sicher: Die Trend- und Stimmungswende ist dem neuen Bundestrainer gelungen. Das war in Wolfsburg von der ersten bis zur letzten Minute in einem Stadion zu spüren, in dem jedes Ticket, das wegen der Corona-Lage verkauft werden durfte (25.984), auch einen Käufer fand. Flick jedenfalls war hochzufrieden. „Die Stimmung im Stadion war einfach fantastisch. Das dritte Heimspiel, das wir hatten – die Mannschaft und die Fans sind eine gute Kombination. Wenn man so viele Tore schießt und so angefeuert wird, ist das natürlich prima“, sagte der Bundestrainer. „Und mich freut es natürlich, dass Jogi bei seinem Abschied neun Tore gesehen hat.“ Und auch, was mit der Nationalmannschaft wieder möglich ist.
Weniger TV-Zuschauer bei Fußball-Nationalmannschaft
Bei der Live-Übertragung des Spiels der deutschen Fußball-Nationalmannschaft am Donnerstagabend haben weniger Menschen zugeschaut als zuletzt. Durchschnittlich 6,49 Millionen Fußballfans sahen das 9:0 der DFB-Auswahl gegen Liechtenstein. RTL erreichte damit einen Marktanteil von 23,9 Prozent und durfte sich über die meistgesehene TV-Sendung des Tages freuen. Die Zuschauerzahl lag allerdings unter den Werten der Länderspiele im Oktober und unter dem Durchschnittswert des Vorjahres (7,12 Millionen). (dpa)