Kulturgeschichte des Fußballs : Poetisch, peinlich, politisch
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Aus dem Hintergrund erzielte Helmut Rahn 1954 in Bern das wichtigste Tor, das jemals für Deutschland geschossen wurde. Bild: dpa
Manuel Neukirchner erzählt in „Deutschland, dein Fußball“ eine Kulturgeschichte anhand von 44 Objekten. Die meisten von ihnen haben einen ikonografischen Wert. Manche überraschen.
Lehmanns Zettel, Schöns Mütze und ein Stück Gras mit Kreidepunkt aus Rom. Dazu der goldgelbe Lederball aus Bern und der rechte Schuh von Götze, Schuhgröße 43, noch mit Rasenspuren am Stollen. Es sind Devotionalien wie diese, die bei jedem Fußballfan in Deutschland einen inneren Spielfilm ablaufen lassen, der die Höhepunkte der deutschen WM-Geschichte mit eigenem Erleben abgleicht. Erinnertes trifft auf Angelesenes, historisch Verbürgtes auf emotional Verfärbtes. Es sind Objekte zum Schwärmen, gesammelt zwischen zwei Buchdeckeln. Aber nicht nur.
Manuel Neukirchner erzählt in „Deutschland, dein Fußball“ eine Kulturgeschichte anhand von 44 Objekten, von denen die meisten ikonografischen Wert haben, manche aber auch durchaus überraschen – und er spart dabei auch Peinliches, Poetisches und Politisches nicht aus. Der Autor ist Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund und überblickt etwa 1600 Exponate, aus denen er auswählen konnte. Er entschied sich für 44, portioniert in ebenso vielen Kapiteln, chronologisch geordnet, beginnend 1895.

Jedes einzelne der Episoden beginnt mit einer Illustration oder einem Foto, das neugierig macht – und dem eine drei- bis vierseitige Geschichte folgt, die anschaulich und pointiert erzählt, um was es geht. Das Buch kann wie eine fortlaufende Handlung gelesen werden, lädt aber auch zum Blättern und Schmökern ein. Wer mag, beginnt mit den vermeintlichen Heldengeschichten: Lehmanns Zettel aus dem Elfmeterschießen gegen Argentinien im Viertelfinale 2006, der ein großer Bluff war, aber das Sommermärchen süffig machte. Rahns linker Lederschuh, mit dem er aus dem Hintergrund schoss und traf. Ein Tor, dass den Deutschen ein „wir sind wieder wer“-Gefühl verlieh, dem Siegtorschützen des WM-Finales von 1954 aber kein bleibendes Lebensglück brachte.
Packender als diese weithin bekannten Anekdoten erscheinen die Tauchzüge in die Untiefen des deutschen Fußballs, die oft totgeschwiegenen Momente, die Neukirchner angemessen würdigt und einordnet. So erinnert die Teilnehmer-Medaille von den Olympischen Spielen 1912 an Gottfried Fuchs, der als einziger deutscher Nationalspieler das Kunststück fertig brachte, zehn Tore in einem Spiel zu erzielen – beim 16:0-Erfolg gegen Russland –, aber dennoch im deutschen Fußballgedächtnis fast vergessen ist, weil er konsequent aus den Annalen getilgt wurde: Fuchs war Jude.
Noch 1972 erwiderte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) auf eine Anfrage von Sepp Herberger, der den nach Kanada ausgewanderten Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions als „Versuch der Wiedergutmachung“ einladen wollte, es bestehe vom Verband „keine Neigung im Sinne Ihres Vorschlags zu verfahren“. Dagegen hatte der DFB kein Problem damit, noch bis 1963 den „Tschammerpokal“ auszuspielen. Hans von Tschammer von Osten war Reichssportführer in Nazideutschland gewesen und hatte 1935 die Trophäe zum Pokalwettbewerb gestiftet. Als DFB-Pokal wurde der silberne Pott gerne weiterverwendet – das eingravierte Hakenkreuz wurde mit einer DFB-Plakette verdeckt.
Dagegen lässt sich die Überreichung des 40-teiligen Kaffeeservices „Mariposa“, das der DFB den Nationalspielerinnen anlässlich ihres EM-Titels 1989 spendierte, noch halbwegs als Altherren-Problem erklären. Oscar Wilde – auch ihn zitiert Neukirchner – hatte knapp hundert Jahre vorher, 1895, nach Ansicht des ersten Frauenfußballmatches in Crouch End bei London geschrieben: „Dieser Sport mag ein durchaus passendes Spiel für harte Mädchen sein, als Spiel für feinsinnige Knaben ist er wohl kaum geeignet.“
Der Fußball, die Kunst und das Buch: Peter Handkes sprichwörtlich gewordene „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ von 1970 findet ebenso Einzug in die Kulturgeschichte wie das Manuskript zu Toni Schumachers „Anpfiff“ 1987, das zum Abpfiff seiner Karriere führen sollte – aber ein Bestseller wurde. Karl Lagerfelds Karikatur zum Steuersünder Uli Hoeneß, das Magnetophon, mit dem der Bundesliga-Bestechungsskandal 1971 aufgezeichnet wurde, der Gipsverband zur Heilung von Michael Ballacks Verletzung, die dessen WM-Träume platzen ließen: Neukirchner geht dahin, wo es weh tut. Doch er transportiert auch Wohlgefühle. Das Buch endet in der 113. Minute der Verlängerung des WM-Finals von 2014, als Götze „ihn macht“ – und transportiert noch einmal die ganze Leichtigkeit dieser Sommernacht von Rio.
Doch Geschichte endet nie, und somit auch nicht die deutsche Fußball-Geschichte. Sie wird laufend fortgeschrieben. Mit Poetischem, Peinlichem und Politischem. Kapitel 45 könnte die „One Love“-Binde von Manuel Neuer aus Qatar sein.