Champions League : Bergamo und das Rätsel der „Großmutter“
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Josip Iličić fehlt Bergamo beim Finalturnier der Champions League. Bild: Picture-Alliance
Atalanta Bergamo muss im Champions-League-Viertelfinale gegen Paris Saint-Germain auf seinen vermeintlich besten Spieler verzichten. Stürmer Josip Iličić fehlt beim Finalturnier. Die Umstände sind unklar.
Atalanta Bergamo ist so etwas wie die Tormaschine der Serie A. In der Saison 2019/20 erzielte das Team von Trainer Gian Piero Gasperini 98 Tore. Serienmeister Juventus Turin um Superstar Cristiano Ronaldo kam auf 75. Schon im Jahr davor hatte Atalanta den Titel des kollektiven Torschützenkönigs errungen. Ebenfalls zum zweiten Mal in Serie ist Atalanta als Dritter der Serie A direkt für die Champions League qualifiziert. Schon beim Debüt in der Königsklasse gelang Bergamo der Sprung unter die besten acht. Atalanta ist der einzige italienische Klub im Lissabonner Finalturnier. Meister Juve und Neapel waren im Achtelfinale gescheitert. An diesem Mittwochabend (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Champions League und bei DAZN) fordert das Überraschungsteam aus der Lombardei in der ersten Viertelfinalbegegnung Paris Saint-Germain um Superstar Neymar heraus.
Als Trainer Gasperini am Montag den Kader für das wichtigste Spiel in der Vereinsgeschichte von Atalanta bekanntgab, war der Name Josip Iličić nicht dabei. Überrascht hat das niemanden, obschon der 32 Jahre alte slowenische Nationalstürmer so etwas wie der nie versiegende Treibstoff in Bergamos Tormaschine ist. In der gegenwärtigen Saison, der besten seiner Karriere, gelangen ihm in allen Wettbewerben zusammen 21 Tore, dazu lieferte er neun Vorlagen. Im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League in Valencia vom 10. März erzielte Iličić alle vier Treffer beim 4:3. Mit diesem Kunststück rückte Iličić in einen ziemlich exklusiven Klub auf: Vier Tore in einem Spiel der K.-o.-Phase der Champions League waren bis dahin nur Lionel Messi, Robert Lewandowski und Mario Gomez geglückt – jedoch jeweils in Heimspielen, nicht auswärts wie Iličić.
Dennoch ist Josip Iličić kein Superstar. Man könnte sogar sagen: im Gegenteil. Warum er beim Finalturnier in Lissabon fehlt, ob er überhaupt noch einmal in den Kader zurückkehren wird – darüber gibt es allerlei Spekulationen, aber keine gesicherten Erkenntnisse. Gewiss ist nur, dass er sich seit geraumer Zeit in Slowenien bei Mutter Ana und Bruder Igor aufhält, mit dem Einverständnis von Trainer Gasperini und der Klubführung. Sicher ist zudem, dass Josip Iličić derzeit nicht trainieren noch gar spielen kann, weil er verletzt ist – nicht physisch, sondern psychisch.
Die „Oma“ der Mannschaft
In der Kabine und auf dem Trainingsgelände wird Iličić von seinen Mannschaftskameraden „nonna“ (Oma) gerufen. Es heißt, seinen Spitznamen verdanke er dem Umstand, dass er oft gedanken-, ja sorgenvoll wirke. Wie eine Großmutter inmitten einer rauflustigen Enkelschar. Die Zeit des Lockdowns von Anfang März bis Mitte Mai verbrachte Iličić – wie alle seine Teamkollegen von Atalanta – in Bergamo. Die Stadt mit gut 120.000 Einwohnern sollte schon bald nach Verhängung der nationalen Ausgangssperre vom 9. März zum sogenannten Epizentrum der Pandemie in Italien werden.
Im „Wuhan Europas“ starben so viele Menschen im Verhältnis zur Einwohnerzahl an Covid-19 wie in keiner anderen Stadt. Während das öffentliche Leben zum Erliegen kam, schrillten Tag und Nacht die Sirenen der Ambulanzen. Und als sich in der Leichenhalle und in der Kapelle des Zentralfriedhofs die Särge stapelten, weil das Krematorium hoffnungslos überlastet war, wurden die Särge vom italienischen Heer zur Einäscherung in benachbarte Provinzen und Regionen geschafft. Die „Lastwagen von Bergamo“ wurden zum Sinnbild für den Schrecken von Sars-CoV-2.
Ist die Erkrankung von Josip Iličić eine Folge des Corona-Traumas? Den Ball des Spiels von Valencia, der ihm nach seiner Wahl zum „Man of the Match“ übergeben worden war, spendete Iličić sogleich dem Hospital „Papst Johannes XXIII.“ in Bergamo, wo Ärzte und Pfleger auf der Intensivstation um das Leben Dutzender Covid-19-Kranker rangen. „Wir sind an eurer Seite, ihr Engel, um das wichtigste Spiel von allen zu gewinnen“, ließ Iličić über die Homepage von Atalanta mitteilen. Es kann aber auch sein, dass die Ursache des akuten depressiven Schubs tiefer in der Lebensgeschichte des Josip Iličić zu suchen ist.
Geboren wurde er als Spross einer ethnisch kroatischen Familie 1988 in Prijedor, einer mehrheitlich serbischen Stadt in der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Hercegovina. Der Vater wurde von einem serbischen Nachbarn ermordet, als Josip kaum ein Jahr alt war; die Bluttat mochte schon ein Wetterleuchten für die „ethnischen Säuberungen“ durch die serbische Soldateska in den jugoslawischen Zerfallskriegen von 1991 an gewesen sein. Die verwitwete junge Mutter floh mit den kleinen Söhnen nach Slowenien, wo das Talent des jüngeren der beiden zunächst in Krainburg (Kranj), später in Laibach (Ljubljana) und dann in Marburg an der Drau (Maribor) gefördert wurde. Erste Profistation in Italien war 2010 Palermo, 2013 folgte Florenz, seit 2017 ist Iličić in Bergamo. Dort ist der 1,90 Meter große Techniker mit dem starken linken Fuß zur sportlichen Blüte gereift.
Und zusammen mit seiner slowenischen Ehefrau Tina Polovina und den 2016 und 2018 geborenen Töchtern Sofia und Victoria schien er in Bergamo auch zur inneren Ruhe gekommen zu sein: in einer überschaubaren pittoresken Stadt daheim, im europäischen Spitzenfußball zu Hause. Ist womöglich eine schwere Ehekrise, wie einige italienische Medien berichten, der Grund für die akute Seelenerkrankung des empfindsamen Stürmers, der in insgesamt 70 Spielen das slowenische Nationaltrikot trug? Wie sehr dem Team ohne Stars aus Bergamo seine „nonna“ im Kampf gegen die Startruppe aus Paris fehlen wird, muss sich zeigen. In Lissabon wird der abwesende Iličić dennoch dabei sein: im Herzen seiner Teamkameraden und seines Trainers.