
Typen im deutschen Fußball : Mehr Wahnsinn wagen
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Maradona in Berlin: Erinnerung an einen Fußballhelden in der Alten Försterei. Bild: EPA
Im deutschen Fußball wurde zu viel Energie vergeudet, um Freigeister in eine Form zu pressen. Inzwischen will aber auch der Deutsche Fußball-Bund erkannt haben: Wer mehr Genie möchte, muss mehr Wahnsinn zulassen.
Schweigeminute und Trauerflor für Diego Maradona: Es wirkte einerseits ganz selbstverständlich, dass sich auch der deutsche Fußball dem Gedenken an einen der Größten des Sports anschloss. Zugleich aber schien Maradona doch sehr, sehr fern und auch fremd aus der Perspektive eines Bundesligastadions des November 2020, und das nicht nur wegen der bedrückenden Leere, die in einem solchen Widerspruch zur Lebensfülle steht, die Maradona verkörperte.
Womöglich hat auch mancher Spieler in den stillen Momenten des Gedenkens ein bisschen weitergedacht – und sich gefragt, ob die ganze Heldenverehrung nicht auch ein bisschen scheinheilig ist. Schließlich kickt und lebt jeder von ihnen in der Gewissheit, schon für viel weniger ans Kreuz genagelt zu werden, als es der argentinischen (Fußball-)Gottheit nachgesehen wurde. Um es auch darüber hinaus auf einen konkreten Punkt zu bringen: Wenn die Deutsche Fußball Liga sich die Legende Maradona einverleibt, dann tut sie das mit Haut und Haaren, obwohl sie beispielsweise dessen Frauenbild gewiss ganz gern vor der Tür gelassen hätte.
Die Sehnsucht nach einem wie Maradona ist auch die nach einer anderen Zeit. Eine, in der im Fußball manches schöner und leichter war, aber längst nicht alles besser. Diese Ambivalenz kommt manchmal etwas kurz bei der Rückschau, dabei führt sie geradewegs zu einer auch in der Gegenwart spannenden Frage: Wie viel Wahnsinn darf überhaupt (noch) in einem Genie stecken?
So viel wie bei Maradona gewiss nicht, da wäre es mit der Karriere schnell vorbei, schon aus körperlichen Gründen. Aber auch der moralische Gürtel sitzt viel enger als zu Maradonas Zeiten. Der Fußball, der sich als verantwortungsbewusster Teil der Gesellschaft begreift (und verkauft), kann sich den Exzess nicht mehr leisten, und das darf man nicht nur mit Blick auf das Sündenregister des oft genug diabolischen „Dios“ als Fortschritt betrachten.
Freigeister in eine Norm pressen
Aber es ist auch etwas verlorengegangen, und wenn man sich in der Bundesliga auf die Suche danach macht, landet man – Anhänger der „Iglesia Maradoniana“ mögen nun „Gotteslästerung!“ rufen – womöglich in Berlin-Köpenick. Dort, bei Union, ist Max Kruse Woche für Woche für den Unterschied gut, als raumgreifender Stratege und als Torjäger, mal kühl, mal kunstvoll, einer, dessen Wesen auch in der Abweichung von der Norm besteht.
Das hat ihm in seiner Karriere manches Mal geschadet, nicht zuletzt bei seinem Rauswurf aus der Nationalmannschaft, nachdem er sich unvorteilhaft ins Berliner Nachtleben verirrt hatte – längst nicht die einzige Dummheit. Kruse hätte ein viel besserer Profi werden können, wenn er auch wie einer gelebt hätte, sein Talent hat ihm kaum eine Grenze gesetzt. Aber man kann es auch andersherum betrachten: dass es Kruse, den Spieler, nur deshalb überhaupt so gibt, weil Kruse als Typ ist, wie er ist.
Das ist ein Dilemma, das nicht nur für den Sport als Entertainment von Bedeutung ist, die vielzitierte Sehnsucht nach „Typen“, mit denen das Publikum sich identifizieren kann. Es geht längst um das Spiel an sich, bei dem in Deutschland etliche Jahre lang viel Energie vergeudet worden ist, Freigeister in eine Norm zu pressen oder sie – wenn sie sich nicht formen ließen – aus dem System zu entfernen. Inzwischen will es aber auch der Deutsche Fußball-Bund erkannt haben: Wer mehr Genie möchte, muss mehr Wahnsinn zulassen.
