Saisonziel erreicht : Das Wunder von Bochum
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Geschafft: Trainer Reis und der VfL bleiben erstklassig. Bild: Jürgen Fromme/firo Sportphoto
Erstmals in diesem Jahrtausend gewinnt Bochum beim Giganten aus der Nachbarstadt – und bejubelt vorzeitig den Klassenverbleib. „Das ist unfassbar“, sagt Trainer Reis. Dabei ist das Geheimnis simpel.
Bei aller Routine, die der Bundesligabetrieb über die Jahrzehnte entwickelt hat, gibt es sie noch, diese ganz großen Momente des puren Fußballglücks. In der Stunde nach der 85. Spielminute der Partie des VfL Bochum bei Borussia Dortmund wurde der Gästeblock im Norden des Westfalenstadions zu einem Ort, an dem die Menschen voller Überschwang um Fassung rangen. Ihr Klub hatte ein verrücktes Spiel 4:3 gewonnen und damit „die Krönung“ für eine hinreißend schöne Saison geschaffen, wie Trainer Thomas Reis später sagte.
Nun rannten die Spieler immer wieder auf ihre Anhänger zu, brüllten, sangen, ließen ihre Fäuste kreisen. Berauscht von der Mischung aus der Freude über ein für sich genommen schon riesengroßes Fußballspiel und dem noch größeren Glück, den Klassenverbleib geschafft zu haben. „Ich habe keine Worte dafür, das ist unfassbar“, sagte Torhüter Manuel Riemann.
Sie hatten 2:0 geführt, 2:3 zurückgelegen und jubelten am Ende über einen 4:3-Sieg. Erstmals in diesem Jahrtausend haben sie im Stadion des Giganten aus der Nachbarstadt gewonnen. Milos Pantovic, der fünf Minuten vor dem Ende das Siegtor geschossen hatte, war sich nicht einmal sicher, ob die Party rechtzeitig vor der nächsten Trainingseinheit am kommenden Dienstag zu Ende gehen würde. „Keine Ahnung, ob wir das schaffen“, sagte der Mittelfeldspieler, während Reis voller Stolz verkündete: „Was hier in den letzten zwei Jahren entstanden ist, ist ein Traum.“
Die ganz großen Geschichten wurden zwar anderswo erzählt. Beispielsweise gab es das Dauerkrisendrama beim BVB, dem an diesem Tag ein neues Kapitel mit der mittlerweile gut bekannten Fehlerflut und wieder einmal zornig pfeifenden Fans hinzugefügt wurde. Für Schlagzeilen sorgten auch die von vielen Bedenken und Zweifeln begleitete Meisterschaft des FC Bayern, das Niedergangsdrama des Big-City-Klubs aus Berlin, und vielleicht bewegen sogar die Höhenflüge des SC Freiburg und des 1. FC Köln mehr Menschen als der VfL Bochum.
Aber was die emotionalen Ausschläge in alle Richtungen betrifft, ist es schwer, den VfL zu übertreffen. „Nach den letzten beiden Spielen, die nicht so gut liefen, ist es umso schöner, so zurückzukommen“, sagte Gerrit Holtmann „Das ist der Charakter unserer Truppe. Wir haben heute wieder Geschichte geschrieben. Schon gegen Bayern haben wir Geschichte geschrieben, heute wieder.“
Als Schlüsselmoment auf dem Weg zu diesem Erfolgsjahr wird immer wieder die krachende 0:7-Niederlage beim FC Bayern am fünften Spieltag genannt, in deren Folge die Trainer und ihre Spieler erkannten, dass sie gemeinschaftlich und maximal intensiv verteidigen müssen, um in der Bundesliga mithalten zu können. Das Team stabilisierte sich und schlug die Münchner im Rückspiel in einer sensationellen Partie 4:2.
„Castroper Straßenfußball“
„Wir haben überragend gelernt aus den Dingen, die uns widerfahren sind“, sagte der Bochumer Sportdirektor Sebastian Schindzielorz. „So richtig hinten reingerutscht sind wir nie. Das ist eine absolut beeindruckende Leistung.“ Hinzu kam, dass das altmodische Bochumer Stadion auch unter Pandemiebedingungen mit deutlich reduzierter Zuschauerzahl hervorragend funktionierte. „Keine Nadelstreifen, kein weißes Ballett, kein Brimborium – Castroper Straßenfußball!“, lautet der Claim einer schlauen Imagekampagne.
Aber es gab auch finstere Momente beim VfL. Immer wieder wurden Bierbecher in Richtung Spielfeld geschmissen, das Duell gegen Borussia Mönchengladbach musste sogar abgebrochen werden, nachdem ein Schiedsrichterassistent getroffen worden war. Und der in der Hinrunde noch bei Union Berlin spielende Max Kruse sagte nach einer Partie beim VfL, er habe „selten so asoziale Fans erlebt wie hier“. Schindzielorz bezog die Anhänger dennoch explizit ein in seine Schwärmerei, nachdem das Saisonziel erreicht war: „Das war eine fantastische Leistung von allen, angefangen von den Zuschauern. Alle Mitarbeiter haben VfL-like immer wieder gegen die Widerstände angekämpft.“
Die erstaunlichsten Fortschritte hat jedoch die Mannschaft gemacht. Im Gegensatz zu Mitaufsteiger Greuther Fürth hat der VfL eine bundesligataugliche Spielweise entwickelt. Nicht mit beeindruckenden Laufleistungen, sondern mit vielen langen Bällen und einer enormen Frustrationstoleranz. Als Schlüsselspieler Simon Zoller sich ein Kreuzband riss und monatelang ausfiel, stürmten eben Holtmann, Antwi-Adjei, Asano oder Polter. Torhüter Reimann, der erst im Alter von 33 Jahren in der Bundesliga ankam und dort gleich zu den Besten zählte, hat sich ebenso gut entwickelt wie Kapitän Losilla oder die Außenverteidiger Gamboa und Soares.
Zudem haben sie eine charakterstarke Mannschaft, die mit Konflikten umgehen kann. „Wir haben das Wunder aus eigener Kraft geschafft, ich empfinde puren Stolz“, sagte Reis, der nun mit seinem Team vor der für Aufsteiger oftmals noch schwereren zweiten Saison steht. Aber so weit mochte am Samstag niemand vorausblicken. Mindestens bis Dienstag soll unbeschwert gefeiert werden.