Bundesliga-Kommentar : Die Frische der Nachspielzeit
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Des einen Freud, des anderen Leid: Während der VfB Stuttgart feiert, ist Kölns Bittencourt frustriert Bild: dpa
Ein Lob der Nachspielzeit – Selten fielen so viele späte Treffer an einem Spieltag. Diese Erfindung des Fußballs hat etwas Tröstliches.
Ein Lob der Nachspielzeit. Diese Erfindung des Fußballs hat etwas Tröstliches. Wie im Leben weiß man im Fußball nie ganz genau, wann es vorbei ist. Keine Uhr zeigt es präzise an. Aber mittlerweile geht der Fußball großzügiger mit der Lebenszeit seiner Liebhaber um. Früher waren neunzig Minuten neunzig Minuten. Damit der Schiedsrichter einen Nachschlag gewährte, musste schon etwas sehr Außergewöhnliches geschehen sein. Erst seit den neunziger Jahren erhalten die Zuschauer regelmäßig mehr fürs Geld, angezeigt durch die Tafel, die nach neunzig Minuten hochgehalten wird. Gerade in diesen Extra-Minuten erreichen Spannung und Schauwert knapper Spiele oft ihren Höhepunkt. Wachsende Entschlossenheit und schrumpfende Konzentration lösen dann übliche Handlungsmuster auf.

Sportkorrespondent in München.
In der englischen Premier League gibt man deshalb im Zweifel eher ein wenig mehr Zugabe. Das ist gut fürs Gesamtprodukt. Großer Nutznießer ist aktuell das Sensationsteam des FC Watford, das am ersten Spieltag das 3:3 gegen Liverpool und nun auch das 2:1 gegen Arsenal in der Nachspielzeit erzielte. Zum Lohn steht Watford vor den beiden Großklubs auf Platz vier. In der Bundesliga war man oft geiziger, ging kaum über die üblichen zwei, drei Minuten hinaus. Das scheint sich langsam zu ändern.
Argumente für Spielzeitverlängerung
Der achte Spieltag bot dafür einige Argumente. Stuttgart gewann durch ein Tor in Minute 90+4. Die Bayern hatten bei Zeigerstand 90+3 schon alles geklärt, hoben sich aber das schönste Tor, durch Kimmichs Hacke, bis dahin auf. Der HSV traf in Minute 90+2, was ihm nichts mehr brachte, dem Publikum aber ein Extra an Spannung. Frankfurt traf zum Sieg in der 90., Augsburg zum Remis in der 89. Minute. Und um ein Haar hätte auch Tabellenführer Dortmund das bisher aufregendste Duell der Saison noch mit dem Ausgleich in der Nachspielzeit gegen Leipzig gekrönt. Ein Hoch auf Spiele, die nicht ins Nichts auslaufen, sondern Beteiligte und Betrachter beim Schlusspfiff mit Maximalpuls beglücken.
Nachspielzeit, der Begriff passt auch auf jene Zugabe, die der Fußball manchmal ganzen Karrieren beschert. Viereinhalb Jahre Ruhestand sind in vielen Branchen kaum aufzuholen. Dem 72-jährigen Jupp Heynckes dagegen schenken sie, wie Thomas Müller heiter sagte, „einen kleinen Frischevorteil gegenüber der Mannschaft“. Das zumindest ist die Hoffnung der Bayern, und beim 5:0 gegen Freiburg passten Niveau und Tempo der braven Breisgauer tatsächlich zu einer gemütlichen Ü-70-Party. Das könnte sich ändern. Kommende Woche wartet mit zwei Spielen gegen Leipzig und dann der Partie in Dortmund das große Belastungs-EKG für die Bayern und ihren Retro-Trainer.
Vor kurzem ist, in England, ein weiterer bekannter Ü-70-Trainer zurückgekehrt, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen. Während Heynckes mit dem Triple-Ruhm in den Ruhestand gegangen war, trat Roy Hodgson nach der Jahrhundertblamage gegen Island bei der EM 2016 in Schimpf und Schande ab. Heynckes übernahm nun den deutschen Serienmeister, Hodgson das schlechteste Team der 129-jährigen englischen Ligageschichte. Bilanz von Crystal Palace bis Samstag: sieben Niederlagen, 0:17 Tore. Dann kam Meister Chelsea, und Palace gewann. In der Nachspielzeit ist eben fast alles möglich – vor allem in der eines Trainers.