Heimvorteil ist weg : Wie ist denn nun der Geisterfußball in Corona-Zeiten?
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Gladbacher Notlösung: Pappkameraden als Fußballfan-Dekoration. Bild: dpa
Vier Bundesliga-Spieltage ohne Zuschauer sind gespielt. Die Datenanalyse zeigt: Der Fußball hat sich weniger verändert als befürchtet. Die Spieler sind unerwartet fit. Doch für die Fans gibt es einen beruhigenden Trend.
Auf den wenigen Transparenten, die derzeit in den Bundesligastadien die gespenstische Leere auf den Rängen unterbrechen, findet sich eine Botschaft besonders häufig: „Ohne Fans ist Fußball nichts.“ Tatsächlich lässt sich nach inzwischen vier Geisterspieltagen festhalten, dass der Fußball ohne Fans zumindest anders ist. Und für jene Anhänger, die von ihrem Einfluss auf den Ausgang des Spiels überzeugt sind, hat diese Veränderung etwas Beruhigendes: Der Heimvorteil ist ohne Fans offenbar auf der Strecke geblieben. Die Heimteams scheinen ohne die Unterstützung von den Rängen sogar benachteiligt.
Nur gut 22 Prozent der seit dem Neustart ausgetragenen Spiele haben die Heimmannschaften gewonnen. Vor Corona waren es in der laufenden Saison 43 Prozent, im Gesamtschnitt der Vorsaison gar 46 Prozent. Nun stehen nach dem 4:2-Sieg von RB Leipzig beim 1. FC Köln lediglich acht Heimsiegen 18 Auswärtssiege gegenüber. „Und das lag nicht daran, dass nun zufälligerweise schwache Teams überproportional oft zu Hause gegen deutlich bessere antreten mussten“, sagt Karsten Görsdorf, Geschäftsführer des Instituts für Spielanalyse, das sich mit der wissenschaftlichen Analyse von Spielsportarten beschäftigt. Vielmehr seien acht der 18 Auswärtssiege rein von der Datengrundlage her nicht zu erwarten gewesen, wohingegen lediglich einer der acht Heimsiege eine Überraschung gewesen sei.
Zudem hätten sich favorisierte Heimteams vielfach mit unerwarteten Unentschieden begnügen müssen. Empirisch ist das bei einer statistisch betrachtet geringen Fallzahl noch kein abgesicherter Wert, wie Görsdorf betont. „Aber als Indiz ist der Trend bemerkenswert“, sagt der Sportwissenschaftler aus Potsdam.
Fans klatschen nicht mehr zur Niederlage
Denn obwohl es zunächst plausibel klingt, dass der Heimvorteil ohne Unterstützung des Publikums flöten geht, war das nach dem bisherigen Stand der Heimvorteilsforschung keineswegs zu erwarten. Schließlich tendieren die Studien, die sich dem Phänomen mit statistischen Methoden genähert haben, dazu, den Heimvorteil vermehrt auf andere Faktoren als auf die Zuschauer zurückzuführen. Fans wurden sogar eher als Hemmnis bewertet, da sie den Druck auf die Heimmannschaft erhöhten – durch eine höhere Erwartungshaltung oder Pfiffe und andere Missfallensbekundungen bei ungünstigem Spielverlauf. So belegt es beispielsweise der Sportpsychologe Professor Bernd Strauß von der Universität Münster in seiner Studie mit dem plakativen Titel „Wenn Fans ihre Mannschaft zur Niederlage klatschen“.
Das empirische Übergewicht von Heimsiegen wurde in der Wissenschaft stattdessen eher mit anderen externen Faktoren erklärt. Bei Strauß etwa damit, dass das Heimteam keine Reisestrapazen hat oder die Bedingungen im eigenen Stadion bis hin zum Spielfeld besser kennt. Andere Untersuchungen legten ihren Fokus derweil darauf, welchen Einfluss Zuschauermassen auf die Schiedsrichter haben: So wurde nachgewiesen, dass im Schnitt mehr Nachspielzeit gewährt wird, wenn eine Heimmannschaft zurückliegt, als wenn sie führt. Das deutet auf eine unterbewusste Neigung der Unparteiischen hin, einem in Rückstand befindlichen Heimteam noch eine kleine Zusatzchance zum Ausgleich zu eröffnen.
Eine Forschergruppe bestehend aus den Sportökonomen J. James Reade und Carl Singleton sowie Dominik Schreyer hat bei Geisterspielen schwindenen Heimvorteil sogar außerhalb der derzeitigen Sondersituation nachgewiesen. Bei der Betrachtung aller 191 vor der Corona-Krise ausgetragenen Geisterspiele auf europäischem Topniveau – wegen Vereinssanktionen, etwa im Europapokal, der italienischen und französischen Ligen – ließ sich feststellen, dass auch dort der Anteil der Heimsiege um zehn Prozentpunkte unter der üblichen Quote von 46 Prozent lag.
Sie registrierten zudem, dass die Schiedsrichter Auswärtsteams unter Zuschauerausschluss tendenziell mit 0,5 weniger Gelben Karten sanktionierten. Unparteiische scheinen also weniger hart mit den Auswärtsteams ins Gericht zu gehen, wenn sie nicht von den Zuschauern beeinflusst werden. Die zusätzlichen Geisterspiele in aller Welt könnten die Heimvorteilsforschung nun revolutionieren. „Vielleicht kann der aktive Fan aufatmen“, sagt Spieleanalytiker Görsdorf. „Seine Unterstützung könnte mehr wert sein als bislang angenommen.“
Corona könnte Heimvorteilsforschung revolutionieren
Das Spiel selbst hat sich indes nach der Analyse seines Potsdamer Instituts für Spielanalyse in der Bundesliga erstaunlich wenig verändert: Nachdem vor der Wiederaufnahme des Spielbetriebs große Zweifel herrschten, ob die Spieler nach kaum zehn Tagen im Mannschaftstraining und ohne ein Testspiel gegen einen fremden Gegner ihr Topniveau erreichen können, legt die Tiefenanalyse der Daten nun nahe, dass die Bedenken unberechtigt waren. Zu beobachten ist dies etwa anhand der Passquote: In den Spielen ohne Fans wurden bislang im Schnitt pro Team 426 Pässe gespielt mit einer Erfolgsquote von 83,6 Prozent.
Das liegt ganz minimal über den vor der Krise erfassten Durchschnittswerten der laufenden Spielzeit. „Am ersten Spieltag nach Wiederaufnahme des Spielbetriebs gab es noch eine Tendenz zu sicherheitsbetontem Spiel, also dem einfachen Querpass. Die Quote der erfolgreichen Pässe lag da noch etwas höher. Das hat sich aber mittlerweile wieder eingependelt auf normalem Niveau, auch bezüglich der Passgeschwindigkeiten, die ein gutes Indiz sind für das Spielniveau“, sagt Görsdorf.
Ähnliches gilt auch für die athletischen Daten: Nachdem die Teams am ersten Spieltag läuferisch mit einer Gesamtdistanz von 116 Kilometern bereits auf dem Durchschnittsniveau aus der Zeit vor der Corona-Krise lagen, ist der Schnitt nach vier Spieltagen nun sogar um drei Kilometer gestiegen. Die für Trainer noch wichtigere Zahl der intensiven Tempoläufe pro Team ist bei 485 pro Team pro Spiel um 32 höher als zuvor – und das trotz einer englischen Woche mit drei Spielen in sieben Tagen.
Bayern Münchens Joshua Kimmich erreichte im Spitzenspiel bei Borussia Dortmund mit 13,7 Kilometern übrigens einen Spitzenwert, der zwei Kilometer über seinem Durchschnittswert liegt. Und Vladimir Darida von Hertha BSC stellte am Wochenende mit 14,2 Kilometern sogar einen Bundesliga-Rekord seit Beginn der Datenerfassung in der Saison 2012/13 auf. Die Zwangspause könnte für die Akteure also unverhofft wie eine Frischzellenkur gewirkt haben. Wobei die Ausnahmegenehmigung, die derzeit fünf statt normalerweise drei Wechsel pro Spiel erlaubt, ebenfalls einen Effekt haben dürfte.
Eine Hoffnung von Fußball-Puristen scheint sich derweil trotz der Geisterspiele nicht zu erfüllen: dass sich die Profis nämlich angesichts des fehlenden Publikums auch unnötige Theatralik und Spielverzögerungen sparen würden und dadurch unterm Strich mehr Fußball gespielt würde. Nach dem ersten Geisterspieltag lag die Nettospielzeit pro Spiel noch mehr als zwei Minuten über dem Saisondurchschnitt. Inzwischen hat sich der Wert bei 56 Minuten, in denen der Ball tatsächlich rollt, wieder normalisiert. Zumindest auf dem Rasen scheint der Fußball also auch ohne Fans erstaunlich normal – allerdings ist das Ergebnis eben oftmals ein anderes.