Eintracht Braunschweig : Ohne jede Existenzangst
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Ein Mann für wichtige, wuchtige und schöne Tore: Auch dank Domi Kumbela hofft Braunschweig noch auf das Fußball-Wunder Bild: dpa
Die Niedersachsen besitzen im Abstiegskampf zwei große Trümpfe: Sie haben mit nichts anderem gerechnet, und diese Saison hat den Verein in jedem Fall vorangebracht. Gelingt in Leverkusen die nächste Überraschung?
Sein Treueschwur kurz vor dem Abgrund ist ihm ganz leicht gefallen. Mirko Boland, im Team von Eintracht Braunschweig eine Mischung aus Dauerläufer und Spielgestalter, will seine Rolle noch drei weitere Jahre ausfüllen. Aber warum bindet sich ein Könner wie er per Arbeitsvertrag vorzeitig an einen Aufsteiger, der damit rechnen muss, den Kampf um den Klassenverbleib zu verlieren? Boland findet die Fragestellung an sich merkwürdig. „Bei der Eintracht spürst du dieses ganz besondere Gefühl. In diesem Verein und in der Stadt wird Fußball gelebt. Und ich habe mir hier einen ordentlichen Stellenwert erarbeitet“, sagt der 26-Jährige. Er rennt, passt und grätscht unermüdlich. Boland freut sich, wenn Braunschweig an diesem Samstag (15.30 Uhr/ Sky und im FAZ.NET-Liveticker) bei Bayer Leverkusen wieder einmal als krasser Außenseiter antritt, auf Teil 28 des ganz normalen Wahnsinns in der Fußball-Bundesliga. Der kleine Klub stemmt sich mit so viel Vehemenz und Leidenschaft gegen den Absturz, dass man ihn nicht bemitleiden mag, sondern mit ihm fühlt.
Sie sind fast chancenlos und doch glücklich. Für eine Mannschaft, die über Wochen und Monate belächelt worden ist, haben sich Boland und Co. eine bemerkenswert gute Laune bewahrt. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eines Vereins, der nach eigenem Bekunden viel zu früh und ungeplant in die höchste Spielklasse aufgestiegen ist, lassen sein Bemühen um den Klassenverbleib wie ein Hirngespinst erscheinen. Aber was bei den bundesweit belächelten Rechenspielen der Niedersachsen mit dem niedrigsten Gehaltsetat von 15 Millionen Euro vergessen wird: Sie fühlen sich gar nicht so, als ob sie übermäßig viel Lehrgeld zahlen müssen. „Meine Mannschaft zeigt wahnsinnige Energieleistungen mit einer besonderen Intensität. Und sie entwickelt sich“, sagt Eintracht-Trainer Torsten Lieberknecht.
Er hält eine Mannschaft bei Laune, die seit dem 3. Spieltag mit nur einer Unterbrechung am Tabellenende steht. Eine Misere wie diese bringt in herkömmlichen Vereinen den Trainer in akute Not. In Braunschweig ist der Vertrag von Lieberknecht vorzeitig bis 2017 verlängert worden. Wie im Fall von Boland gilt auch bei ihm: für welche Liga, scheint dabei völlig zweitrangig zu sein. Die Hauptdarsteller von Eintracht Braunschweig schöpfen besondere Kraft aus der Konstellation, dass nicht einmal der leidenschaftlichste Fan von ihnen den Klassenverbleib erwartet. Sie haben als krasser Außenseiter immerhin schon solch prominente Gegner wie den VfL Wolfsburg und Bayer Leverkusen besiegen können, und die Entwicklung wird anhand der Rückrundentabelle sichtbar: Die Eintracht steht dort derzeit auf Rang 13.
„Wir sind nicht allzu weit weg“, sagte Havard Nielsen nach dem jüngsten 3:1-Heimsieg gegen den FSV Mainz 05. Der Norweger, eine typische Braunschweiger Low-Budget-Verpflichtung während der Winterpause, ist ein sehr fleißiger Stürmer. Es erscheint fraglich, ob Nielsen ein Probetraining bei einem Bundesligaverein für gehobene Ansprüche überstehen würde. Bei der Eintracht aber ist der Mann mit dem robusten, geradlinigen Spielstil genau der richtige Typ. Wenn Trainer Lieberknecht sein kämpfendes Kollektiv darauf einschwört, dass die Socken qualmen und die Füße bluten müssen, bis der Arzt kommt, wird Nielsen mit Sicherheit nicht jedes Wort verstehen. Das macht aber nichts. Havard ist so selbstlos, dass seine hohe Laufleistung gar nicht eingefordert werden muss. Er schindet sich gerne für diese Eintracht aus Braunschweig, die er als unkaputtbar bezeichnet.
Auf der langen Reise nach oben
Dieser Mut der Verzweiflung und der Mangel an Existenzangst sind im Abstiegskampf ein schlagendes Argument für die Herren Boland, Nielsen und Co. Was wäre eigentlich schlimm daran, wenn Eintracht Braunschweig nach nur einem Jahr die Bundesliga schon wieder verlassen muss? Vermutlich ginge mit Domi Kumbela ein Mann für wichtige, wuchtige und schöne Tore verloren. Der Deutsch-Kongolese zögert die Gespräche über seine Vertragsverlängerung für Braunschweiger Verhältnisse ungewöhnlich lange hinaus. Kumbela soll jenen Verein, der ihm trotz seiner Ecken, Kanten und familiären Probleme immer wieder zur Seite gestanden hat, im Fall des Abstiegs sogar ablösefrei verlassen dürfen. Lieberknecht aber erwartet von seinem Liebling und Sorgenkind zugleich ein zeitnahes Treuebekenntnis zur Eintracht. Wenn er also zwischen den Zeilen durchklingen lässt, dass er sauer auf Kumbela ist, klingt das fast so, als ob das Braunschweiger Miteinander gar nicht von schnöden Arbeitsverträgen geprägt, sondern eher durch innige Blutsbrüderschaften getragen wird.
Der Gewinner einer Braunschweiger Saison, in der ein Klassenverbleib nicht mehr ein Wunder, sondern bei drei Punkten Rückstand auf einen Relegationsplatz wieder ein greifbares Ziel geworden ist, wird in jedem Fall der Verein mit seinen Strukturen sein. Eintracht-Geschäftsführer Soeren Oliver Voigt kann angesichts der äußerst defensiven Transferpolitik hinter den Kulissen in die Offensive gehen. Ein Teil der Mehreinnahmen, die das Abenteuer Bundesliga beschert, sind zum Teil für den Ausbau des Eintracht-Stadions und die Installation einer Rasenheizung auf dem Trainingsplatz investiert worden. Eine neue Geschäftsstelle mit moderner Gastronomie gibt es schon. Der Aufbau eines Nachwuchsleistungszentrums, das auch wirklich als Unterbau für einen Profiklub taugt, ist Teil eines Mehrstufenplans. Stück für Stück werden die Sünden einer Vergangenheit beseitigt, in der dem guten alten Sportverein Eintracht Braunschweig der Wandel in ein modernes Wirtschaftsunternehmen verwehrt geblieben ist. Geschäftsführer Voigt, Cheftrainer Lieberknecht und Manager Marc Arnold haben sich gemeinsam darauf verständigt, eine lange Reise anzutreten. Der Klassenverbleib in dieser Saison wäre dabei ein Etappenziel, das erst gar nicht vorgesehen war und jetzt doch voller Leidenschaft angesteuert wird.