Schmerzvolles Ende: Neymar zieht sich gegen Serbien eine Verletzung am Sprunggelenk zu. Bild: AP
Richarlison schießt Brasilien beim WM-Start zum Sieg über Serbien. Sein Seitfallzieher ist ein atemraubendes Kunststück. Doch am Ende reden alle nur über den Star des Teams, der auf der Bank weint.
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Für die Zeit nach den Spielen der Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar hat der Weltverband (FIFA) ein strenges Protokoll festgelegt. In der sogenannten „Mixed Zone“ sprechen all die Spieler, die sprechen wollen, mit den Journalisten. Und in der Pressekonferenz erscheinen die Trainer plus die Spieler des Spiels. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag Ortszeit indes, in den Katakomben des Finalstadions in Lusail, saß plötzlich auch Rodrigo Lasmar vor einem Mikrofon – und sprach. Nachfragen seien nicht erlaubt, sagte ein FIFA-Sprecher zuvor. Was also war so wichtig, dass die Regeln gebrochen wurden?
Die kurze Antwort darauf ist: Neymar! Die lange gab Lasmar mit ernster Miene. Er hatte nach dem brasilianischen 2:0-Sieg über Serbien zum WM-Start Neuigkeiten aus der Kabine mitgebracht. Denn den Star der Mannschaft, die Nummer zehn, die große Hoffnung für den ersten WM-Titel seit 2002, hatte es erwischt, möglicherweise schlimm. „Neymar hat sich eine Verstauchung am rechten Knöchel zugezogen. Wir haben die Behandlung sofort begonnen und müssen 24 bis 48 Stunden abwarten, bis wir mehr sagen können. Wir haben noch keinen MRT-Termin (Magnetresonanztherapie/d.Red.).“
In der 79. Minute war Neymar ausgewechselt worden. Zuvor hatte er sich auf den Rasen gesetzt, die Betreuer hatten sich um ihn gekümmert. Die Blessur hatte er sich schon elf Minuten zuvor zugezogen. Doch da stand es nach einem Treffer von Richarlison (62.) nur 1:0. „Neymar hat den Schmerz gespürt, aber er entschied, dass er noch weiterspielt, weil das Team ihn brauchte. Das war bemerkenswert“, sagte Trainer Tite. Erst als Richarlison mit einem spektakulären Seitfallzieher zum 2:0 erhöhte (73.) und der Sieg sicher erschien, war für Neymar die Zeit gekommen, um sich zu setzen und um seine Auswechslung zu bitten.
„Da können Sie sicher sein“
Auf der Bank wurde er weiter behandelt, ihm schossen Tränen in die Augen, er zog sein Trikot über den Kopf, fasste sich an den Fuß. Nach dem Abpfiff humpelte er in die Kabine, der Knöchel war recht deutlich angeschwollen. Beim Abgang durch die Mixed Zone sagte Neymar nichts, sondern ließ Bilder sprechen. Der König des Dramas ist wieder da. Dass es schon sein letzter Auftritt war bei dieser WM, denkt Tite nicht. „Neymar wird weiter bei der WM spielen, da können Sie sicher sein“, sagte er vor allem in Richtung der besorgten brasilianischen Journalisten, einer von ihnen im Neymar-Trikot.
Der Star hatte den ersten Auftritt des Mitfavoriten zu seiner Bühne gemacht. Nicht nur sportlich. Als die Teams zum Aufwärmen auf dem Rasen waren, kam der Kapitän als Nachzügler, um die volle Aufmerksamkeit der ekstatischen Fans auszukosten. Auch als es in die zweite Halbzeit ging und Spieler und Schiedsrichter bereit waren, mussten alle auf ihn warten. Im Spiel zeigte er Klasse, überragte aber nicht. Er schoss dreimal aufs Tor, lediglich 33 seiner 42 Pässe fanden den Mitspieler, dazu gewann er nicht einmal die Hälfte seiner Zweikämpfe, musste gleich neun Fouls der Serben einstecken. Bei einem dieser Duelle erlitt der Offensivspieler von Paris Saint-Germain die womöglich folgenschwere Blessur.
Endet also auch dieses Turnier für den inzwischen Dreißigjährigen mit einem Drama? 2014 bei der WM im eigenen Land erlitt er bei einem Foul eines Kolumbianers einen Lendenwirbelbruch. Das 1:7 im Halbfinale gegen Deutschland sah er als Zuschauer. Vor dem Turnier 2018 heilte ein Fußbruch gerade noch rechtzeitig für die Teilnahme an der WM, bei der er durch absurde Schauspieleinlagen auffiel, nie auf sein Topniveau kam und mit Brasilien im Viertelfinale an Belgien scheiterte. Den Titelgewinn bei der Copa América 2019 im eigenen Land verpasste Neymar, weil er sich kurz vor dem Start einen Bänderriss im Knöchel am rechten Fuß zugezogen hatte. Wiederholt sich Geschichte in Qatar?
In all dem Trubel um Neymar ging der beeindruckende Auftritt von Richarlison, der am Donnerstag die beiden Tore machte, fast unter. Auch Richarlison wurde von den Journalisten zur Verletzung des Stars gefragt. „Ich hab ihm gesagt, dass er viel Eis nehmen soll, damit er bald wieder fit ist“, sagte der Stürmer der Tottenham Hotspur. Angetan war er selbst von seinem artistischen Kunststück. „Es war ein wunderschönes Tor, es war akrobatisch – wahrscheinlich eines der schönsten meiner Karriere und auch des Turniers“, sagte er. Nach einer Flanke mit dem Außenrist von Vinicius Júnior legte er sich den Ball selbst vor in die Luft, drehte sich um die eigene Achse und nahm das Spielgerät im Fallen volley. Ein Meisterstück der Fußballkunst.
Dabei lief die Partie für ihn lange Zeit nicht rund. In der ersten Halbzeit verteidigten die Serben sehr konzentriert und ließen der hochgelobten brasilianischen Offensive wenig Raum. Das missfiel auch der Nummer neun. Mittelstürmer Richarlison bat um Unterstützung. „Ich habe meinen Kollegen in der Halbzeit gesagt, dass ich Bälle brauche“, sagte er. „Und ich habe ihnen versprochen: Wenn ich Bälle bekomme, werde ich treffen.“ Gesagt, getan. Beim Führungstor in der 63. Minute war es noch ein eher schnöder Abstauber, knapp zehn Minuten später dann alles, was das Fußballherz begehrt. Bemerkenswert: Alle 15 Länderspiele, in denen er traf, gewann Brasilien am Ende auch.
Dennoch stand er, mal wieder, im Schatten Neymars. Vor dem zweiten Spiel gegen die Schweiz am Montag (17.00 Uhr MEZ im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-WM, in der ARD und bei MagentaTV) dreht sich doch wieder alles um die Nummer zehn, die noch zwei Tore braucht, um die Bestmarke von Pelé in der Seleção einzustellen. In der Nacht meldete er sich via Instagram philosophisch. Er postete eine Buchseite mit der Überschrift „Glauben haben“: „Das ist daran zu glauben, dass alles trotz Chaos gut sein wird. Das ist die Sicherheit, dass das Beste noch bevorsteht. Es ist das Verständnis dafür, dass alles seine Zeit hat.“ Wie viel Zeit Neymar bei dieser WM noch bleibt, sagt ihm bald der Doktor.