Ausfall bei Fußball-WM : Was ist Brasilien ohne den verletzten Neymar wert?
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Die Nummer zehn am Boden: Neymar fällt bei der WM vorerst aus. Bild: AP
Der große Star der Brasilianer weint nach einer Verletzung im ersten Spiel. Nun fällt er vorerst aus. Die Angst vor dem nächsten Drama ist groß. Der Trainer hat Alternativen. Aber wie gut sind die?
Adenor Leonardo Bachi, den alle nur Tite nennen, fand bei seiner Aufzählung kaum ein Ende. Brasiliens Nationaltrainer hatte Mühe, alle Stürmernamen, die bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar in seinem Kader stehen, aufzusagen. Richarlison, der mit seinen Toren zum Auftakt gegen Serbien für den 2:0-Sieg gesorgt hatte, fiel ihm selbstredend sofort ein, genau wie Vinicius Júnior und Raphinha, die im Finalstadion von Lusail in der Startelf standen.
Tite schaut zu Assistent Cléber Xavier. Ach ja, und dann sind da noch Rodrygo, Gabriel Jesus, Antony und Gabriel Martinelli, die er allesamt einwechselte, sowie Everton Ribeiro und Pedro auf der Bank.
Neun Stürmer haben die Brasilianer im Aufgebot für die Mission, über die sie permanent reden. Die Mission sechster WM-Titel. Seit 2002, als die Seleção im Finale Deutschland besiegte, warten sie. Nun soll es wieder so weit sein. Die Chancen stehen gut, denn die Mannschaft ist nicht nur im Angriff exzellent besetzt.
Tite verlangt defensive Disziplin
Im Tor kann Tite wählen zwischen den Besten der englischen Premier League. Alisson Becker vom FC Liverpool und Ederson von Manchester City stellen Weltklasse dar. Die Innenverteidigung mit Kapitän Thiago Silva, der mit gut 38 Jahren nun der älteste Spieler ist, der je für Brasilien bei einer WM auflief, und Marquinhos bilden das erfahrene Gerüst für die Außenspieler Danilo und Alex Sandro.
Beide mögen, ganz nach brasilianischer Tradition, den Weg nach vorne, doch Tite verlangt defensive Disziplin. Für diese Balance sorgt intern auch der schon 39 Jahre alte Dani Alves. Bei seinem Verein in Mexiko spielte er zuletzt kaum. Dennoch steht er im Kader, um die jüngeren Wilden anzuführen.
Der Kopf der brasilianischen Mannschaft ist indes das Mittelfeld. Türsteher Casemiro war schon bei Real Madrid einer der lange meistunterschätzten Spieler auf dem Planeten Fußball. Wie er bei den Spaniern Luka Modrić und Toni Kroos den Rücken freihielt, so macht er es im Nationalteam für die vielen Stürmer, unter denen ein Star wie Roberto Firmino aus Liverpool nicht einmal einen Platz im Kader fand.
Gegen Serbien unterstützte Lucas Paqueta Casemiro bei der Jagd nach dem Ball. Alles in allem sind die Südamerikaner, wenn nicht alle ersten Eindrücke täuschen, der Favorit auf den Titel. Ein Torhüter ohne Probleme, eine Abwehr ohne Wackler, ein Mittelfeld ohne Lücken und Torjäger ohne Ende – das sind die Zutaten, die es braucht, um nach zwanzig Jahren Warterei den Goldpokal am Golf abzustauben.
Neymars Tränen
Wäre da nicht dieser eine Stürmer, den Tite in seiner langen Aufzählung nicht erwähnte. Es war keine Vergesslichkeit oder gar böse Absicht, denn nicht nur er hatte schon ausführlich über ihn geredet. Neymar da Silva Santos Júnior steht oft im Mittelpunkt. Alles dreht sich um ihn, nicht nur auf dem Rasen, den er gerne zu spät betritt, um die volle Aufmerksamkeit der Fans und Kameras zu haben.
Nun steht sein WM-Projekt auf der Kippe. Im Spiel gegen Serbien zog er sich eine Bänderverletzung am rechten Sprunggelenk zu, wie Mannschaftsarzt Rodrigo Lasmar am Freitag sagte. Auf der Bank am Vortag kamen Neymar Tränen, er zog sein Trikot über den Kopf. Nach dem Abpfiff humpelte er, der neun Fouls einstecken musste, in die Kabine, der Knöchel war sichtbar geschwollen. Beim Abgang aus dem Stadion sagte Neymar nichts, sondern ließ Bilder sprechen.
Der König des Dramas ist zurück. Dass es sein letzter Auftritt in Qatar war, denkt Tite nicht. „Neymar wird weiter bei der WM spielen“, sagte er in Richtung der besorgten brasilianischen Journalisten, einer von ihnen im Neymar-Trikot. Im Spiel gegen die Schweiz am Montag (17.00 Uhr MEZ im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-WM, im ZDF und bei MagentaTV) wird Neymar definitiv fehlen, wie Verteidiger Danilo, der ebenfalls an einer Knöchelblessur leidet.
Tites großes Team
Endet trotz der nicht so schwerwiegenden Diagnose auch dieses Turnier für den inzwischen 30 Jahre alten Neymar tragisch? 2014 bei der WM in Brasilien erlitt er bei einem Foul des Kolumbianers Juan Zúñiga einen Lendenwirbelbruch. Das Land weinte, erst um den Star, dann nach dem 1:7 im Halbfinale gegen Deutschland, das Neymar als Zuschauer sah.
Vor dem Turnier 2018 heilte ein Fußbruch gerade rechtzeitig für die Teilnahme an der WM, bei der im Viertelfinale Belgien zu stark war. Den Titelgewinn bei der Copa América 2019 im eigenen Land verpasste Neymar, weil er sich kurz vor dem Start einen Bänderriss im Knöchel am rechten Fuß zuzog.
„Heute ist einer der schwierigsten Momente meiner Karriere ... und wieder bei einer Weltmeisterschaft“, schrieb Neymar auf Instagram: „Ich habe eine Verletzung, ja, es ist ärgerlich, es wird wehtun, aber ich bin sicher, dass ich die Chance haben werde, zurückzukommen, weil ich mein Bestes tun werde, um meinem Land, meinen Teamkollegen und mir selbst zu helfen.“
Erlebt er diesen Albtraum nach dem Foul von Nikola Milenković nochmal? An Alternativen mangelt es nicht, selbst wenn Neymar einzigartig ist. Doch, und das ist die positive Nachricht für Brasilien: Wenn eine Mannschaft den Ausfall ihres großen Stars kompensieren und den Titel holen kann, dann dieses von Tite, die aus mehr besteht als neun Stürmern. Oder acht.