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Schriftsteller P. F. Thomése : „Ich freue mich über und für die Deutschen“

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Banges Orange: Kann die Niederlande gegen Deutschland jubeln?

Banges Orange: Kann die Niederlande gegen Deutschland jubeln? Bild: AFP

Der niederländische Schriftsteller P. F. Thomése über schönen Fußball, alte Feindschaften, das Trauma von 1974 und seine Bewunderung für Johan Cruyff.

          5 Min.

          Der 54 Jahre alte P. F. Thomése ist Fußballfan und teilt die Menschen gerne in zwei Kategorien ein: Jene, die sich zu seinem Idol Johan Cruyff und dessen offensiver Fußballschule hingezogen fühlen, und die anderen - jene Zauderer, die es mit Louis van Gaals vorsichtigerem Stil halten. In Deutschland bekannt wurde Thomése vor allem durch das Buch „Schattenkind“ (2004).

          Herr Thomése, der niederländische Fußball klassischer Prägung wird von Kennern bis heute geschätzt. Wie würden Sie diesen holländischen Stil beschreiben?

          Der Aufstieg von Ajax Amsterdam und des niederländischen Fußballs hat für mich viel mit dem Lebensgefühl der sechziger und siebziger Jahre zu tun - getragen von einem neuen Freiheitsgefühl und der Revolte gegen Autoritäten. Spieler wie Johan Cruyff oder Johan Neeskens verkörperten diese Kultur. Für mich war Cruyff ein Popstar wie John Lennon. Wenn ich an den niederländischen Stil denke, dann denke ich an Freiheit und Kreativität.

          Gleichzeitig ist die Individualität im „Fußball total“ aber doch auch eingebunden in ein spielerisches System - auch der geniale Cruyff musste sich diesem unterordnen.

          Meiner Meinung nach gibt es im niederländischen Fußball zwei Schulen: die „Cruyffianer“ und die Anhänger van Gaals. In der Diktatur van Gaals steht das Kollektiv im Mittelpunkt, während für Cruyff das Individuelle und das Originelle das Entscheidende sind. Diese beiden Richtungen existieren bis heute im holländischen Fußball - nur leider hat van Gaal gesiegt. Zumindest gibt es mehr Van-Gaal-Nachfolger. Das ist auch normal.

          Warum hat van Gaal die Oberhand behalten?

          Weil Cruyff genial ist, und darum ist es schwieriger, seinem Weg zu folgen. Der jetzige Nationalcoach Bert van Marwijk ist zum Beispiel ein Van-Gaal-Typ.

          Das Kollektive spielt aber auch im holländischen Fußball eine Rolle, oder nicht?

          Ja, das ist tatsächlich so. Der „total-voetbol“ ist eine kollektive Taktik. Schon unter Trainer Rinus Michels hatte das auch etwas Militaristisches, und er wurde darum „General“ genannt.

          Doch weder Michels noch Cruyff konnten die große Niederlage im WM-Finale von 1974 gegen Deutschland verhindern. Sind die Holländer auch an ihrem Hochmut gescheitert?

          Ich denke, etwas anderes war wichtiger: Bei der WM 1974 haben wir im Halbfinale Brasilien besiegt - den dreimaligen Weltmeister, einen Mythos. Danach dachten wir, gegen Deutschland würde es viel leichter sein. Wir haben die Deutschen und ihre kämpferische Seele einfach unterschätzt. Dann kam das 1:0 für uns schon in der ersten Minute, und alle gingen davon aus, dass es ein Spaziergang werden würde. Nach dem Ausgleich haben wir es nicht geschafft, die Taktik wieder zu ändern und umzuschalten. Dazu hätte auch gehört, dass wir mehr hätten kämpfen müssen.

          Die Niederlage gegen die Deutschen wird häufig als Trauma beschrieben. Stimmt das?

          Es war ein geplatzter Traum - vermutlich ähnlich wie für die Deutschen, als das „Sommermärchen“ bei der WM 2006 plötzlich mit der Halbfinalniederlage gegen Italien endete. Und wenn ein solches Märchen zerstört wird, kann man es eben nicht so einfach wiederbeleben. Wir haben auch vier Jahre später bei der nächsten WM in Argentinien im Finale gegen den Gastgeber verloren. Das war allerdings nicht ganz so schlimm, weil viele dachten, wegen der Militärdiktatur in Argentinien hätten wir ohnehin gar nicht an der WM teilnehmen sollen. 1974 konnten wir dagegen nicht glauben, was passiert ist. Geblieben ist, dass seitdem jeder erwartet, dass die Niederländer immer gut spielen.

          Dann kam es 1988 zur Revanche, als die Niederlande im EM-Halbfinale endlich die Deutschen besiegen konnten.

          Ich kann das alles - auch wegen unseres Erfolgs bei der EM 1988 - inzwischen gelassener nehmen. Sogar die Niederlage gegen Spanien im WM-Finale 2010 konnte ich akzeptieren. Ich hätte es schwieriger gefunden, wenn wir gewonnen hätten.

          Warum das?

          2010 war kein Märchen, sondern Realität, die profane Wirklichkeit, der etwas Mittelmäßiges anhaftete. Das ist etwas anderes als diese wunderschönen Spiele Hollands bei der WM 1974. Wenn ich an schönen Fußball denke, dann denke ich an 1974. Das gehört zum besten Fußball, den ich jemals gesehen habe - wie man ihn sonst vielleicht noch von Brasilien oder dem FC Barcelona und AC Milan gesehen hat. 1974 ist etwas, das sich nie wiederholen kann. ANTWORT: Für Niederländer meiner Generation ist es die Mannschaft von 1974, deren Namen man heute noch im Traum aufsagen kann.

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