Starkes Spiel: Robin Gosens (Nummer 20) und Joshua Kimmich (Nummer 6) nehmen Portugal in die Zange. Bild: Picture-Alliance
Viele zweifelten an Taktik und Aufstellung von Joachim Löw. Doch beim 4:2 gegen Portugal zeigt die DFB-Elf mitreißenden Fußball. Dass der Plan des Bundestrainers aufgeht, liegt vor allem an einem ungleichen Duo.
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Als Joshua Kimmich und Robin Gosens in den Strafraum stürmten, als der eine flankte und der andere lauerte, als der Ball von rechts nach links durch die Luft segelte, als der eine glotzte und der andere köpfte, als der eine hüpfte und der andere rutschte, als in kaum mehr als drei Sekunden glückte, was in fast drei Jahren nicht geglückt war, konnte man sehen und fühlen: So mitreißend kann Fußball in der Nationalmannschaft also noch sein.
Am Samstagabend haben der Rechtsaußen Kimmich und der Linksaußen Gosens auf der Bühne der Europameisterschaft ein kleines Kunststückchen aufgeführt. Es war das vierte deutsche Tor in einem aufregenden Vorrundenspiel in München, das mit einem 4:2-Sieg über Portugal endete. Es war vor allem aber das deutsche Tor, auf das Joachim Löw vermutlich seit der Weltmeisterschaft im Sommer 2018 gehofft hat.
In den Länderspielen danach hat der Bundestrainer immer wieder mit der Dreier- beziehungsweise Fünferkette experimentiert. So gut wie an diesem Abend – und speziell in dieser Flanke-Kopfball-Tor-Darstellung – ist sie aber noch nie aufgetreten. Und obwohl vor dem Duell mit Ungarn am Mittwoch (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-EM, im ZDF und bei MagentaTV) vom ersten bis zum letzten Gruppenplatz noch alles möglich ist, scheint eines unmöglich: dass Löw freiwillig etwas an seiner Aufstellung ändert.
Wo hilft Kimmich am meisten?
Es ist seit der 0:1-Niederlage gegen Frankreich im ersten EM-Spiel viel diskutiert worden, ob die Idee, die Löw für sein letztes Turnier entwickelt hat, wirklich eine gute ist. Ein Streitpunkt: Auf welcher Position hilft Joshua Kimmich der Mannschaft am meisten? Er selbst hat am Abend vor dem Portugal-Spiel in einer Pressekonferenz mal wieder argumentiert, warum er sich eigentlich einen Platz in der Mittelfeldmitte wünscht.
Er sagte, dass man sich dort „mehr eingebunden“ fühle als auf der rechten Seite, wo „das Spiel vermeintlich abseits von einem selbst stattfindet und man vermeintlich auftragslos ist“. Werden Kimmichs Fähigkeiten auf der Außenbahn verschwendet? Das dachten viele. Dann flankte er auf Gosens.
Es gibt im Sprachbaukasten für Fußballberichte eine Fachvokabel, die in Texten über die deutsche Nationalmannschaft so lange nicht mehr verwendet werden konnte, dass man sie vor dem Schreiben entstauben muss. Hier ist sie: Flügelzange. So nennt man laut Wikipedia zwei Außenspieler, die „in Zusammenarbeit die gegnerische Abwehr unter Druck setzen“.
Vielleicht sollte man in dem Wikipedia-Artikel nun ein Highlight-Video von Gosens und Kimmich aus dem Portugal-Spiel verlinken. Vor dem 1:1 (Eigentor von Rúben Dias, 35. Minute) flankte Kimmich den Ball von rechts nach links, wo Gosens ihn in die Mitte passte. Vor dem 2:1 (Eigentor von Raphaël Guerreiro, 39.) passte Kimmich in die Mitte. Vor dem 3:1 (Kai Havertz, 51.) passte wieder Gosens in die Mitte. Und das 4:1 (60.) war ein Fall von: in die Zange genommen.
Am Samstagabend, als Gosens und Kimmich schon in der Kabine verschwunden waren, sollte Joachim Löw in der Pressekonferenz ihre Leistungen bewerten. Er nutzte das, um nochmal seinen Siegerplan vorzustellen: „Es war unser Ansinnen, dass wir gerade über die Außenpositionen für mehr Gefahr sorgen müssen. Wir wussten um die defensiven Schwachstellen von Portugal. Beide haben bewusst höher gespielt als gegen Frankreich, deshalb sind wir häufig in den Rücken der Abwehr gekommen und waren insgesamt gefährlich. Beide haben es super gut gemacht – in der Torvorbereitung, Robin auch im Abschluss.“
Es ist ein ungleiches Duo, das das deutsche Team am Samstag angetrieben hat. Auf der einen Seite Joshua Kimmich, der Champions-League-Sieger, der Karrierist. Auf der anderen Seite Robin Gosens, der nie in einem Nachwuchsleistungszentrum geschult wurde und seit vier Jahren in Italien für Atalanta Bergamo spielt. Er ist kein Star in seiner Mannschaft, aber ein Star in seiner Rolle.
„Es ist eine Stärke von mir, dass ich am zweiten Pfosten lauern kann, eine Hütte machen kann“, sagte er am Samstag in eine ARD-Kamera. Wenn Gosens ein Interview gibt, sollte man die Lautstärke erhöhen. Er freut sich immer so schön darüber, dass er in der Nationalmannschaft mitmischen darf. Als der Reporter ihn daran erinnerte, antwortete Gosens: „Kannst‘ mich gerne mal zwicken, selbst dann glaub ich’s nicht.“
Auf dem Rasen in München fand sich dann auch ein Mann, der alle, die durch das Spektakel ins Schwärmen geraten waren, zwickte, zumindest mit seinen Worten. Klar, sagte Thomas Müller, der selbst famos gespielt hatte, habe man mehr Freude in der Offensive gehabt. „Allerdings muss man ehrlicherweise auch sagen, dass die Franzosen einfach besser verteidigen können. Deswegen kann man die Leistungen nicht direkt nebeneinanderlegen. Es war heute für uns einen Tick einfacher.“
Es gibt gute Gründe, warum man das 4:2, so mitreißend es gewesen sein mag, nicht überbewerten sollte. Einerseits wurden die Gegentore von Cristiano Ronaldo und Diogo Jota (15. und 67. Minute) mal wieder durch eine allgemeine Unachtsamkeit in der deutschen Abwehr ermöglicht. Andererseits waren die portugiesischen Verteidiger teilweise noch unachtsamer. Am Mittwoch, das ist keine mutige Prognose, werden die Ungarn mehr Widerstand leisten.
Dann sollte auch Gosens wieder mitspielen können, auch wenn er nach seinem Tor wegen Adduktorenschmerzen ausgewechselt wurde (wie übrigens auch die angeschlagenen Mats Hummels und Ilkay Gündogan). „Robin hat das ordentlich gemacht“, sagte Müller und konnte sich dann einen Thomas-Müller-Gag nicht verkneifen: „Zwar nur 60 Minuten, das muss man auch mal sagen. Gut, er spielt in Italien.“ Doch an diesem Abend hatte Gosens sogar darauf eine Antwort: „Besser gute 60 als schlechte 90.“
Wieder mehr als 20 Millionen Fans: ARD mit Top-Marktanteil
Das zweite Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat wieder mehr als 20 Millionen Menschen vor die Fernseher gelockt. Nach ARD-Angaben saßen am Samstag beim 4:2-Sieg des DFB-Teams gegen Europameister Portugal in München von 18.00 Uhr an 20,11 Millionen Fans vor den Bildschirmen und bescherten damit dem Ersten einen Top-Marktanteil von 75,7 Prozent. Das bedeutet, das drei von vier Zuschauern zu dem Zeitpunkt Fußball im TV sahen.
Die reine Zuschauerzahl lag allerdings um etwas mehr als zwei Millionen unter der des ZDF bei der Auftaktpartie gegen Weltmeister Frankreich. Am Dienstag hatten 22,55 Millionen Interessierte die 0:1-Niederlage im TV erlebt. Das Spiel war allerdings zu der attraktiveren Zeit um 21.00 Uhr angepfiffen worden. Der Marktanteil war mit 67,4 Prozent niedriger als am Samstag in der ARD.
Bei der EM vor fünf Jahren erreichten ARD und ZDF mit ihren Übertragungen von den drei deutschen Vorrundenspielen Quoten von jeweils über 25 Millionen Zuschauer. Die Zahlen sind aber nur eingeschränkt vergleichbar: In diesem Jahr übertragt parallel auch der Anbieter Magenta TV die EM-Spiele; außerdem schauen mittlerweile viel mehr Menschen Fernsehen über das Internet - und diese Zuschauer sind bei der Quotenerhebung nicht dabei.
Neben dem deutschen Spiel konnte die ARD am Samstag auch mit den anderen beiden EM-Spielen des Tages gute Quoten machen. Am Nachmittag waren 5,64 Millionen Zuschauer beim 1:1 der deutschen Gruppengegner Ungarn und Frankreich dabei (Marktanteil: 43,5 Prozent). Von 21.00 Uhr an verfolgten 8,79 Millionen Interessierte die Begegnung der Spanier gegen die Polen (1:1), was einen Marktanteil von 37,4 Prozent bedeutete. (dpa)