Dichter dran: Moritz Rinke (1) : „Ich vermisse Schweinsteiger!“
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Angie und die Weltmeister: Merkel beim Kabinenbesuch 2014 Bild: dpa
Schriftsteller Moritz Rinke schreibt EM-Briefe: Diesmal von Kanzlerin Angela Merkel an den Bundestrainer. Sie handeln vom gemeinsamen Abschied, vom Leben an der Spitze und von geheimen Sehnsüchten.
WM- oder EM-Briefe des Schriftstellers Moritz Rinke sind in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fast schon Tradition. Diesmal wird sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel nach jedem Spiel der Deutschen hinsetzen und einen Brief an den Bundestrainer verfassen. Sie werden vom gemeinsamen Abschied handeln. Vom einsamen Leben an der Spitze. Und von geheimen Sehnsüchten.
Lieber Jogi,
ich siebzehn Jahre, du sechzehn Jahre, und nun hören wir gemeinsam auf. Du nach der EM, ich nach der Bundestagswahl. Du hoffentlich doch noch irgendwie als Europameister, mir ist die Bundestagswahl schon fast egal, soll der Bessere gewinnen.
Ich habe mal ein bisschen alte Bilder von uns angeschaut. Ich schaue mir gerne Bilder von früher an und wundere mich dann, wie dieses junge, zarte Mädchen, das ich einmal war, es so lange da oben ausgehalten hat. Fragst du dich das auch manchmal, wie man das so lange ausgehalten hat? Schau mal, wie jung wir waren, wie süß!
Haargenau die gleiche Frisur! Die gleiche innere „Fokussierung“, wie du sagen würdest, ist schon erkennbar (Bei dir sogar Andeutungen einer Raute!) Du könntest auch mein Bruder sein. Nur die Väter unseres Erfolges waren sehr unterschiedlich, du hattest Klinsmann, ich Kohl, die kann man nicht vergleichen.
Schade, dass es gegen die Franzosen im ersten Gruppenspiel nicht geklappt hat. Doofes Eigentor. Ärgerst du dich jetzt etwa, dass du Hummels zurückgeholt hast? Hättest du mich um Rat gefragt, ich hätte dir abgeraten, es rächt sich immer, wenn man jemanden kaltstellt und dann zurückholt. Hätte ich damals Friedrich Merz zurückgeholt, hätte der mir garantiert hintenrum auch ein Eigentor reingeschossen.
Meinst du, Hummels hat das extra gemacht? Mein Mann, mit dem ich das Spiel geguckt habe, sagte sofort, so, wie der Hummels den reingeschossen habe, hätte er das Gefühl gehabt, dass er das extra gemacht hat, er hätte ja auch woanders hinschießen können und nicht genau in den Winkel, da muss man erst mal reintreffen. So was hätte in der deutschen Geschichte bisher nur Berti Vogts gemacht, sagte der Reporter, 1978 bei der WM, ach, da lebte ich noch nichtsahnend in der DDR.
Aber nimm meinen Mann auch nicht so ernst, der hatte eine anstrengende Woche. Beim G-7-Gipfel im Cornwall musste er sich stundenlang mit der Frau von Macron unterhalten, kennst du die? Die ist Philosophin, die hat ihm zwei Stunden lang über Guy de Maupassant und Arthur Schopenhauer referiert, beim Abendessen saß er neben Joe Biden und musste sich dessen kritisches Gerede über China anhören, das geht mir jetzt schon auf die Nerven, ich habe meinen Mann dann kurzerhand neben die Queen setzen lassen, keine Ahnung, ob man danach noch diesen Schuss von Hummels richtig bewerten kann.
Wäre die Viererkette doch besser gewesen, wie manche sagen? Mir kam das Spiel unserer Mannschaft ein bisschen vor wie Kindergeburtstag. Wir durften alles machen, aber sobald es gefährlich wurde, haben die Franzosen gut aufgepasst und uns das Spielgerät wieder weggenommen. Es fehlt bei uns vielleicht ein bisschen das Freche, das Rotzige, das Kühne und Wilde? Ich vermisse Schweinsteiger! Oder einen wie Sparwasser.
War früher alles besser? Als ich anfing, hatte ich ein Hammerkabinett: Müntefering, Schäuble, Steinbrück, Steinmeier, Gabriel, Scholz, viele von der SPD, ja, aber wenn man das mit dem ganzen Gedöns vergleicht, den ich heute habe.
Wie ist das bei dir? Ist es bei dir auch von Jahr zu Jahr schlechter geworden, obwohl du Weltmeister geworden bist? Mein zweites Kabinett bestand schon aus Rösler, Brüderle, Ramsauer und Konsorten, jetzt bin ich sogar schon bei Spahn. Wen hast du? Die meisten kenne ich gar nicht mehr.
Ich vermisse wirklich Basti Schweinsteiger. Menschen, die mich mitreißen, aber wer reißt einen heute noch mit? Menschen, die mich träumen und mich wieder an etwas glauben lassen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht, wen ich bei der Bundestagswahl wählen soll.
Deine Angela
PS: Ich lese gerade Gedichte über den Abschied. Wenn du gegen Portugal auch noch verlierst, schicke ich dir etwas von Rilke. Oder eine Ode von Hölderlin.
Moritz Rinke gehört zu den führenden Dramatikern Deutschlands. Im August erscheint beim Verlag Kiepenheuer & Witsch sein neuer Roman „Der längste Tag des Pedro Fernández García“.