https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/zweiter-weltkrieg-deutsche-wussten-viel-ueber-mord-an-juden-13822240.html

Zweiter Weltkrieg : „Deutsche wussten viel über Mord an Juden“

  • -Aktualisiert am

Sein Buch steht in Russland gerade hoch im Kurs: Vier Jahre lang hat Nicholas Stargardt an seinem Werk „Der deutsche Krieg“ geschrieben. Bild: Helmut Fricke

Der Historiker Nicholas Stargardt hat untersucht, wie Deutsche aus allen Schichten den Zweiten Weltkrieg erlebten. Die Frage, wofür sie zu kämpfen glaubten, interessierte den Australier besonders.

          4 Min.

          Wie viel haben die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs über die Vernichtung der Juden gewusst?

          Eigentlich sehr viel. Denn die Angehörigen zu Hause bekamen von den Soldaten immer wieder Berichte von der Ostfront über Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen hinter der Front oder auch durch die Wehrmacht selbst. Das Wissen über Vernichtungslager kam dagegen viel später und viel langsamer.

          Wie genau drangen die Nachrichten von den Erschießungen nach Deutschland?

          Viele Soldaten haben das nach Hause geschrieben, und manche hatten sogar Fotos von den Massakern aufgenommen. Sie konnten die Filme aber nicht selbst entwickeln, sondern mussten sie ihren Angehörigen schicken. Dort gingen sie durch verschiedene Hände: die des Laboranten in der Drogerie, dann die von Familienangehörigen.

          Was haben die Angehörigen sich bei solchen Fotos und Berichten gedacht?

          Sie nahmen die Massaker als Teil eines sehr brutalen Krieges wahr, in dem Dörfer niedergebrannt und Partisanen aufgehängt wurden. Sie merkten, dass das kein normaler Krieg war. Viele haben versucht, sich das in der Familie oder im Freundeskreis zu erklären.

          Blieb alles im Familienkreis?

          Nein. Es kam zu einer Flut von Fragen an die Partei. Reichsminister Martin Bormann gab den Parteiführern die Anweisung, den Deutschen zu sagen: „Ja, wir machen das, weil es notwendig ist.“ Er hat die Massenerschießungen nicht geleugnet, sondern sie in gewisser Weise legitimiert und begründet.

          Gab es keine strikte Vertuschung?

          Im Herbst 1941 wurde die Ausrottung der Juden von diversen Instanzen ziemlich öffentlich zugegeben. Propagandaminister Joseph Goebbels versuchte mit der Einführung des Judensterns im Herbst 1941 die Volksgenossen für die Vernichtungspolitik zu gewinnen. Er war ziemlich wütend, dass viele Berliner den Stern und die damit verbundenen Repressionen am Anfang häufig ablehnten.

          Wie reagierte der Propagandaminister?

          Während des Höhepunktes des Holocausts, also 1942, hat Goebbels eine viel leisere Propagandapolitik verfolgt. Er ließ die Geschehnisse in der Presse nur andeuten. So entstand in der Bevölkerung ein Gefühl des Wissens, ohne dass man es genau wusste.

          Gab es in der Bevölkerung eine Ahnung davon, dass im Osten ungeheure Dinge passierten?

          Oh ja. Ende 1941 begannen die Deportationen von Juden aus Deutschland. Das war ein öffentlicher Vorgang mit Augenzeugen. Es gibt sogar viele Fotografien, manche wurden öffentlich ausgehängt. Schnell kamen auch Nachrichten ins Reich, wohin die Juden transportiert worden waren und wie mörderisch sie etwa in Minsk oder Riga behandelt wurden.

          Glaubte die Bevölkerung, dass die deportierten Juden zum Arbeiten in den Osten gebracht wurden?

          Jein. Zwar sind die Berichte des Sicherheitsdienstes und der Gestapo gegen Kriegsende zu einem Gutteil vernichtet worden. Aber für bestimmte Orte sind sie noch vorhanden, zum Beispiel für den Kreis Bielefeld oder für Orte im Süden Deutschlands. Aus diesen Dokumenten geht eindeutig hervor, dass die Bevölkerung glaubte, dass die arbeitsfähigen Juden eingesetzt, die anderen aber erschossen würden.

          Wie hat Goebbels die Judenvernichtung in der Propaganda verarbeiten lassen?

          Einen ersten Versuch unternahm er im Herbst 1941 mit einer scharfen antijüdischen und antibolschewistischen Propagandakampagne. Dann trat er auf die Bremse und versuchte es während des Höhepunkts des Holocausts 1942 mit leiseren Tönen. Da gab es nur Andeutungen und Anspielungen.

          Blieb es bei den leisen Tönen?

          Nein, es änderte sich im Frühjahr 1943. Goebbels’ Antwort auf die große Niederlage von Stalingrad und die britische Bombardierung der Städte im Ruhrgebiet und am Rhein war eine neue antisemitische Kampagne. Die Juden, so behauptete er, versuchten jetzt, das deutsche Volk zu vernichten. Und wenn Deutschland nicht radikale Maßnahmen ergreife, werde es ihnen gelingen. Der Krieg sei nun ein Rassenkrieg gegen die Juden. Diese Botschaft haben andere NS-Führer wie Göring breit aufgegriffen.

          Was bezweckten sie damit?

          Das war ein Versuch des Regimes, in der sich verschlechternden militärischen Situation alle Brücken hinter sich abzubrechen und das Volk hinter sich zu zwingen.

          Gelang das?

          Die Strategie war zum Teil durchaus erfolgreich. Das sieht man am Feuersturm von Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943, bei dem 34 000 Menschen ums Leben kamen. Dieser Feuersturm führte zu einem riesigen Schock in Deutschland. Die Stadt musste evakuiert werden, und die Evakuierten trugen ihre Geschichte in alle Teile des Reiches. Heraus kam eine Widerspiegelung der Goebbels-Propaganda - aber nicht in dem Sinne, die Goebbels hatte erreichen wollen.

          Sondern?

          Viele sagten: Wir bekommen jetzt zurückgezahlt, was wir den Juden angetan haben. Wenn wir nicht so radikal gegen sie vorgegangen wären, wären wir nicht so brutal bombardiert worden. Die Bombardierten sahen sich als hilflose Opfer der deutschen Judenpolitik. Goebbels hat diesen Diskurs bald wieder unterbunden.

          Gelang das?

          Das Regime konnte das Thema Judenvernichtung nicht wieder aus den Köpfen der Volksgenossen verbannen. Es gab eine weit verbreitete Meinung: Die Ausrottung der Juden steht auf unserem Konto, die Bombardierungen der Städte auf dem der Alliierten, beides Beispiele einer unmoralischen Kriegsführung. Die Anerkennung der eigenen Schuld war freilich damit verbunden, dass die deutsche Bevölkerung sich ebenfalls als Opfer sah.

          Machten die Deutschen tatsächlich die Juden für den Krieg verantwortlich?

          Ja, das hat die deutsche Propaganda dem Volk tatsächlich eingeredet. Man hat in Deutschland an die jüdische Weltverschwörung geglaubt. Deshalb fällt es uns heute so schwer, das damalige Denken und Fühlen zu verstehen. Den „jüdischen Bolschewismus“ empfanden die Deutschen als etwas derartig Extremes, dass die meisten glaubten, er müsse vernichtet werden. Ansonsten vernichte er sie. Deshalb haben die Deutschen bis zum totalen Zusammenbruch gekämpft.

          Warum glaubten die Deutschen, sie führten einen Verteidigungskrieg?

          1939 sah man die Ereignisse mit den Augen von 1914: Man hielt sich wieder für eingekreist. Den Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 empfanden viele Deutsche als Reaktion auf eine polnische Aggression. Für Deutschland begann der Krieg offiziell, als Frankreich und England am 3. September als Antwort den Krieg erklärten. Und der Angriff auf die Sowjetunion wurde als ein Präventivkrieg ausgegeben und auch aufgefasst. Manche deutsche Historiker haben an dieser Version noch nach dem Krieg bis in die sechziger Jahre festgehalten.

          „Der deutsche Krieg“ Warum haben die Väter und Großväter bis zum bitteren Ende für das verbrecherische Nazi-Regime gekämpft? Was wussten sie und ihre Angehörigen im Reich über die Massaker im Ostern und über den Holocaust? Diese Fragen haben unzählige Nachgeborene beschäftigt. Der in Großbritannien lebender Australier Nicholas Stargardt, der 1962 in Melbourne geboren wurde und heute Professor für neue europäische Geschichte an der Universität Oxford ist, gibt in seinem Buch „Der deutsche Krieg. 1939-1945“ jetzt neue Antworten auf diese Fragen. Die deutsche Geschichte sei zu wichtig, als dass man sie nur den deutschen Historikern überlassen dürfe, sagte Stargardt im Historischen Museum bei der Vorstellung seines jetzt im Frankfurter S. Fischer Verlag auch in Deutschland erschienenen Werkes. Stargardt, dessen jüdischer Vater 1939 aus Berlin nach Australien floh, hat lange Briefwechsel, Tagebücher und die Berichte des Sicherheitsdienstes über die Stimmung in der Bevölkerung als Basis seiner Forschungen ausgewertet. In seinem Buch berichtet der Historiker, wie sich die Hoffnungen und Ängste der Deutschen im Verlauf der Kriegshandlungen verändert haben, und bettet die Ansichten der sogenannten kleinen Leute in das große Kriegsgeschehen ein. Je heftiger der Krieg tobte, so Stargardts zentrale These, umso mehr sahen die Deutschen ihn als Verteidigungskrieg. Nur durch einen Sieg glaubten sie ihrer Vernichtung entkommen zu können. (rieb.)

          Weitere Themen

          Topmeldungen

          Joshua Kimmich im Interview : „Auf Strecke reicht das nicht“

          Der Führungsspieler der DFB-Elf sagt im Interview, was die Kapitänsbinde ihm bedeutet, wie das wiederholte Scheitern seiner Generation ihn plagt und was sich am Bewusstsein der Nationalspieler vor der Heim-EM ändern muss.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.