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Zum Totensonntag : Immer mehr Einblicke ins Leben der Toten

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Die Kultur des Erinnerns, bald mit QR-Code: Noch ist die Ordnung klassisch, aber im Detail wird auch auf dem Frankfurter Hauptfriedhof der Wandel sichtbar.

Die Kultur des Erinnerns, bald mit QR-Code: Noch ist die Ordnung klassisch, aber im Detail wird auch auf dem Frankfurter Hauptfriedhof der Wandel sichtbar. Bild: Eilmes, Wolfgang

Bilder, Hobbys, Sprüche: Es gibt zunehmend individuell gestaltete Gräber - die letzte Ruhestätte soll schließlich zum Verstorbenen passen. In diesem Sinne haben sich auch die Begräbnisfeiern gewandelt.

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          Die Wünsche an Gunther Seiffert können schon besonders sein. Die letzte Ruhestätte soll schließlich zum Verstorbenen passen. Zum Beispiel hat der Steinmetz aus Bad Homburg für ein Grab einen Fußball hergestellt, in einem anderen eine Modelleisenbahn-Lok angebracht und für ein drittes Steine aus der Provence verarbeitet, die Angehörige mitgebracht hatten. „Es gibt Leute, die etwas Individuelles möchten, nicht mehr den Standard wie früher“, sagt Seiffert, der auch stellvertretender Obermeister der hessischen Steinmetz-Innung ist.

          Das ist nicht nur seine Erfahrung. Gräber werden überall individueller, wie die Soziologen Thorsten Benkel und Matthias Meitzler von der Frankfurter Universität erforscht haben. Benkel befasst sich schon seit längerem mit Fragen rund um Tod und Bestattungskultur. Meitzler hatte 2007 bei ihm ein Seminar besucht, was sein Interesse an dem Thema weckte. Nun schreibt er seine Promotion.

          Die gesellschaftliche Individualisierung ist auf dem Friedhof angekommen

          160 Friedhöfe haben sie bisher besucht, 13800 Fotos von besonders gestalteten Gräbern gemacht. Ein zweites Buch ist geplant. „In der Bestattungskultur geht es nicht mehr so sehr darum, dass die Angehörigen den Verstorbenen in einen gemeinschaftlichen Rahmen, zum Beispiel in die Dorfgemeinschaft, eingliedern. Im Vordergrund steht heute vielmehr die Feier der persönlichen Einzigartigkeit“, so Benkel. Immer häufiger werden Fotos auf Gräbern angebracht, auch solche, die den Alltag des Verstorbenen zeigen. Gerne werden Hobbies dargestellt; Tierdarstellungen finden sich genauso wie Statuen von Verstorbenen. Es gibt Grabsteine in Form von Autos, Schiffen oder Gebäuden. Oft finden sich Musiknoten oder Notenschlüssel auf Gräbern. „Diese Motive verdrängen das Kreuz am ehesten“, sagt Benkel. Das Kreuz sei zwar noch weit verbreitet, stehe jedoch eher für Verlust und Trauer als für eine Religionszugehörigkeit. Zunehmend fänden sich statt Bibelsprüchen Sentenzen des Verstorbenen auf Grabsteinen, Botschaften an ihn oder kurze Dialoge über den Toten. Für Benkel sind all diese Mittel ein Versuch, gegen die Friedhöfen eigene Kollektivierung, eine Vergemeinschaftung im Tod, anzugehen: „Die Tendenz gesellschaftlicher Individualisierung ist auf dem Friedhof angekommen.“

          Auch das „Fehlen“ eines Grabes bei anonymen Bestattungen stehe für die Freiheit und Eigenbestimmtheit, aus etablierten Formen auszubrechen, meint Benkel. Jene Bestattungsart werde aber auch aus pragmatischen Gründen gewählt, weil die Grabpflege entfalle. Dass Angehörige mit einem Grab keine Arbeit haben sollten, hören Steinmetzen, Bestatter und Pfarrer oft, wenn anonyme Bestattungen gewünscht werden. Dabei gebe es Alternativen, sagt Steinmetz Seiffert. Die Menschen wollten schließlich einen Ort für ihre Trauer haben.

          „Trauer hat nicht nur eine Farbe“

          Beispielgebend für neue Formen der Grabgestaltung waren Kindergräber, wie Benkel sagt. Das sieht Pfarrerin Doris Joachim-Storch auch so. Sie ist im Zentrum Verkündigung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, das in Frankfurt seinen Sitz hat, für Gottesdienste zuständig: „Je jünger ein Verstorbener ist, desto stärker ist das Bedürfnis, dessen Leben auf dem Grab abzubilden.“ „Oder zu zeigen, wie das Leben eines Kindes hätte sein können“, ergänzt Benkel. Doch nicht nur Gräber sind individueller geworden, auch Trauerfeiern. „Die Vielfalt und Farbigkeit hat zugenommen. Trauer hat nicht nur eine Farbe“, sagt Sabine Kistner vom Frankfurter Bestattungsinstitut Kistner und Scheidler. Das gelte sowohl für Abschiedsfeiern in ihrem Hause als auch bei Feiern in Friedhofshallen. Sie findet es wichtig, Angehörige im Trauerprozess zu begleiten, „fast schon seelsorgerisch, damit sie so etwas wie eine Deutung erfahren können“.

          Die Kirchen sieht Benkel in diesem Zusammenhang in einem gewissen „Zugzwang“, auch wenn sie nicht prinzipiell gegen neuere Formen bei Begräbnisfeiern seien. Pfarrerin Joachim-Storch und ihr katholischer Kollege Joachim Metzner zeigen sich jedenfalls offen gegenüber Wünschen Angehöriger. Diese möchten zum Beispiel Musik, die zum Verstorbenen passt, oder einige Worte sprechen. Metzner leitet das Zentrum für Trauerseelsorge des Bistums Limburg, das ebenfalls in Frankfurt seinen Sitz hat.

          Grabsteine mit QR-Code

          „Wir sollten die kirchlichen Riten aber pflegen“, sagt die Pfarrerin. Bei den Feiern werde nicht zuletzt die christliche Botschaft von einem Leben nach dem Tod verkündet, hebt Metzner hervor. Wer daran nicht glaube, müsse fast zwangsläufig den Blick ausschließlich auf das irdische Leben des Verstorbenen richten. Er versteht die Individualisierung von Gräbern und Riten gewissermaßen als Kehrseite eines brüchig gewordenen Glaubens.

          Die Entwicklung ist noch nicht zu Ende: Schon werden Grabsteine mit einem sogenannten QR-Code angeboten. Wer sein Smartphone daran hält, kann im Internet mehr über den Toten erfahren. Dort gibt es bereits viele Gedenkportale und -filme. Für Benkel hat das zwei Seiten: „Auf diese Weise wird Trauer zwar verstetigt, aber auch dynamisch.“ Im Internet könne man seine Trauer aktualisieren, weil man Seiten verändern könne. „Das ist auf dem Friedhof nicht möglich.“

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