Gemüse und Obst, Getreide und Nüsse, hier und da Ei, etwas Milch, ein wenig Sahne. Im Darmstädter „Radieschen“ ist das seit 24 Jahren die Maxime.
Von Jacqueline Vogt
Als im Februar 2017 auf der Burg Schwarzenstein, einem noblen Hotel im Rheingau, der neue Küchenchef Nils Henkel seinen Einstand gab, ein Mann, der schon einmal drei Michelin-Sterne erkocht hatte, ließ er klassische Luxusprodukte servieren. Und Gerichte, die bis dato eher ungewöhnlich waren für ein Spitzenrestaurant. Rosenkohl mit Kohlsprossen, Haselnuss und geräuchertem Frischkäse zum Beispiel – Henkel hat ein Faible für Pflanzliches. Drei Monate später verkündete das Frankfurter Ein-Sterne-Restaurant Seven Swans in Frankfurt, künftig vegetarisch zu kochen, später wurden dort sogar alle tierischen Produkte verbannt. Im Juli 2019 eröffnete im Frankfurter Ostend das schicke, junge Hotel Lindley Lindenberg, mit einem vegetarischen Restaurant. Schwerpunkt Gemüse: Das „Radieschen“ in Darmstadt arbeitet seit 24 Jahren so. „In dieser Küche war noch nie ein Stück Fleisch“, sagt Norbert Walter, der Gründer des Lokals.
Im „Radieschen“ einem rundum verglasten Pavillon, sitzt man an einfachen Holztischen auf einfachen Stühlen, schlicht und aufgeräumt, nicht ungemütlich. Die begrünte Gartenterrasse wird auch im Winter betrieben, mit einem geräumigen Zelt, unterm Dach hängen Wärmestrahler. Knapp 50 Plätze hat das Restaurant drinnen, draußen noch mal so viele. Wer hier abends essen wolle, sagt Walter, müsse eine Woche im Voraus reservieren. „Wir sind ein richtiger Promischuppen geworden“, sagt er auch, Fernsehen, Politik, der eine und andere Name fällt. Ein Glamourlokal ist das „Radieschen“ aber nicht, eher eines, das sich aus dem Status eines Projekts für eine Minderheit herausgearbeitet hat zu einer unternehmerischen Konstante, auch zu einer kulinarischen.
Fleischlose, also vegetarische, wie auch tierproduktefreie, also vegane, Gerichte sind in der Gastronomie angekommen, vielerorts, aber nicht überall. 2015 hatte eine Umfrage des Fachverbandes Food & Beverage Management Association (FBMA) unter seinen Mitgliedern ergeben, dass diese gespalten seien. Der FBMA gehören Inhaber, Pächter, Geschäftsführer gastronomischer Betriebe und Verantwortliche für Speisen und Getränke an. Gut die Hälfte gab in der Umfrage an, vegetarische und vegane Angebote für zukunftsträchtig zu halten. Die andere nannte vor allem Veganes ein Thema für die Nische.
Eine Nische besetzt hat auch Norbert Walter, 1983 auf der Nordseeinsel Wangerooge. Dort hat der Mann, der zuvor viele Länder bereist hatte und viele Berufsfelder beackert, zuletzt als Leiter der Datenverarbeitung bei einem Luftfrachtunternehmen, das erste „Radieschen“ eröffnet. „Inmitten von Meer und Fisch haben wir vegetarisch gekocht.“ Walter selbst, der sich als Abkömmling der Achtundsechziger-Bewegung bezeichnet, war da noch gar nicht lange Vegetarier. Dass er es überhaupt ist, obwohl er ein sehr genussfreudiger Mensch sei, nennt er weniger der Sorge um Tierwohl geschuldet als vielmehr ökologischem Bewusstsein und gesunden Menschenverstand. Es gebe Lebensmittel, die wolle er einfach nicht zu sich nehmen, weil er wisse, was sie seien, woher sie kämen, welche Schadstoffe sie enthalten könnten, Muscheln zum Beispiel.
1998 hat Walter das „Radieschen“ auf der Insel geschlossen. Eine Dependance in Darmstadt, wohin es ihn „der Liebe wegen“ zog, war schon 1996 eröffnet worden. Walter hat nie eine Ausbildung zum Koch gemacht, darf aber seit langem selbst Kochlehrlinge ausbilden und hat einen Rahmenlehrplan verfasst für eine vegetarische Zusatzausbildung für Köche. Im „Radieschen“ stand er anfangs täglich in der Küche, heute sind es zwei bis drei Tage in der Woche. Einer, der bei ihm gelernt hat, ist Erik Johnson, auch Küchenchefin Anna Karlak, eine gebürtige Polin, aus deren Heimat eine saure Gurkensuppe stammt, die das Restaurant manchmal anbietet, ist ein „Radieschen“-Gewächs. Seit 2019 sind die beiden die Inhaber des Lokals, Norbert Walter ist so etwas wie ein mitarbeitender Mentor. Das spiegele, sagen alle drei, den Geist des Betriebs, in dem es nicht nur um gutes Essen gehe, sondern auch um einen wahrhaftigen und anständigen Umgang miteinander.
Zwanzig Leute sind im „Radieschen“ beschäftigt, das Lokal betreibt auch Catering, kocht für Kindertagesstätten, Walter und seine Lebensgefährtin haben eine Beratungsagentur für vegetarische Ernährung. Etwa sechs Millionen Vegetarier soll es in Deutschland geben. Über die Zahl derer, die zwar Fleisch essen, aber in einem Restaurant gerne fleischlose Gerichte bestellen würden, gibt es nur Mutmaßungen. In der Berufsschule sei das Vegetarische ein Randthema gewesen, sagt Erik Johnson, zum größten Teil sei es im Unterricht um Fleisch gegangen.
Im „Radieschen“ geht es kulinarisch um Gerichte aus aller Welt, auch weil die Mitarbeiter viele Nationen repräsentieren. Convenience gibt es nicht, die Küche stellt alles selbst her, ein Nussmus ist die Ausnahme. Die Produkte sind zu 90 Prozent Bioware, das Angebot ist in großen Teilen saisonal. Gekocht wird ein Bistro- und Brasserie-Stil mit Anspruch, gemischt mit Veggie-Varianten asiatischer, afrikanischer und südamerikanischer Gerichte. Was aus der Küche kommt, ist zeitgemäß angerichtet und attraktiv präsentiert, auch optisch ein Vergnügen.
Ein gutes Beispiel für den Küchenstil ist das Bali Satay, Spieße mit Würfeln aus mariniertem und dann mit Panko paniertem und frittiertem Tofu. Dazu wird Chinakohl mit Mango und Ingwer serviert, ein Chili-Dip und eine perfekt balancierte Erdnuss-Sauce; es ist ein Gericht, bei dem die Balance stimmt aus Röstnoten und Säure und Süße, Weichem und Knusprigem. Ein schönes Detail an einer Wurzelgemüse-Lasagne, die hier Winter-Sonnenwende heißt und mit einer tiefaromatischen spanischen Sauce besticht, sind die karamellisierten Walnüsse dazu. Und wer wissen möchte, wie ein gebackenes Nougat-Tiramisu schmeckt: Hier lohnt es sich, das herausfinden zu wollen.
Das „Radieschen“, Reuterallee 37 in Darmstadt, ist sonntags bis freitags von 12 bis 14.30 Uhr und von 17.30Uhr an geöffnet, samstags nur abends.