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Einwohnerpetition : Wie mehr politische Bürgerbeteiligung gelingen soll

Eingetütet: Das Wahlrecht ist das vornehmste Recht der Bürger - die Stadt Gießen will aber die Beteiligungsrechte ausdehnen Bild: dpa

Dies könnte zum Vorbild für andere Kommunen werden: Gießener Stadtpolitiker wollen die Einwohner stärker politisch beteiligen. Zwei Mal sind sie vor Gericht gescheitert. Nun versuchen sie es abermals.

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          Was Bürger in Hessen politisch dürfen und was nicht, das regeln die Verfassung und die Hessische Gemeindeordnung. So können sie an Wahlen teilnehmen. Sie können sich in Verbänden zum Beispiel für den Naturschutz und das Gemeinwesen einsetzen, demonstrieren oder auch in Beiräten mit­arbeiten, sofern sie in ein solches Gremium gewählt worden sind. Den Gießener Stadtpolitikern reicht das aber nicht. Deshalb haben sie eine Satzung zur Bürgerbeteiligung verabschiedet – nur haben Gerichte dieses ortsrechtliche Regelwerk kassiert. Nun versuchen es die Mittelhessen abermals.

          Thorsten Winter
          Korrespondent der Rhein-Main-Zeitung für Mittelhessen und die Wetterau.

          Die neuen Vorgaben greifen die juristische Kritik auf, wie Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) am Dienstag vor Journalisten erläuterte. Die künftigen Regeln sollen die Stadtverordneten nicht mehr bevormunden. Vom Magistrat ist anders als bisher nicht mehr die Rede. Am ursprünglichen Ziel ändere sich aber nichts.

          Beteiligung unabhängig von der Nationalität

          Demnach soll die überarbeitete Version der Satzung die „gelebte politische Partizipation rechtskonform und ernsthaft fortsetzen“. Und zwar zu dem Zweck, das Vertrauen zwischen Einwohnerschaft, Verwaltung und Politik in dieser Uni-Stadt an der Lahn weiter stärken. Zudem sollen die neuen Vorgaben die Diskussionskultur ergebnisorientiert ausbauen. Dies habe in der heutigen Zeit eine besondere Bedeutung, hebt das Stadtoberhaupt hervor.

          Becher spricht nicht von Ungefähr von Einwohnern statt von Bürgern. Die Rede ist nun in Amtsdeutsch von Einwohnerbeteiligungssatzung, bisher hieß das Werk Bürgerbeteiligungssatzung. Diese Formulierung schloss Gießener ohne deutschen Pass grundsätzlich aus. Denn Bürger sind im rechtlichen Sinne deutsche Staatsbürger. Nach dem Scheitern der ursprünglichen Satzung vor Gericht wollen Magistrat und zumindest die Mehrheitsfraktionen SPD, Grüne und Gießener Linke diesen Punkt gleich mit „heilen“. Denn sie wünschen mehr politische Beteiligung unabhängig von der Nationalität.

          Mit Blick auf die rechtliche Kritik zu heilen sind allerdings vor allem jene Vorgaben, in denen die alte Satzung die gewählten Stadtpolitiker zu sehr in ihrer Entscheidungsfreiheit einschränkte. „Soweit der Magistrat nach dieser Satzung zu entscheiden oder zu handeln hat“, lautete etwa ein beanstandeter Halbsatz. Der entsprechende Paragraf taucht in der neuen Version nicht mehr auf.

          Gleiches gilt für den Auftrag an den Magistrat, zwei Jahre nach Inkrafttreten der Satzung deren Anwendung auszuwerten und Änderungsbedarf zu prüfen. Keine Rede mehr ist drittens von der Bürgerfragestunde, die nicht zu verwechseln ist mit der gleichnamigen Institution im Rahmen von Sitzung der Stadtverordneten. Die alte Satzung gewährte den Bürgern das Recht, in diesen Sitzungen Fragen zu stellen sowie Wünsche und Anregungen zu äußern. Die neue Fassung überlässt es den Stadtverordneten, Einwohnern dieses Recht zu gewähren.

          Transparenz: Die Stadt Gießen, hier ein Blick ins Rathaus, nimmt einen neuen Anlauf bei der verstärkten Bürgerbeteiligung
          Transparenz: Die Stadt Gießen, hier ein Blick ins Rathaus, nimmt einen neuen Anlauf bei der verstärkten Bürgerbeteiligung : Bild: Wolfgang Eilmes

          Den Gerichtsbeschlüssen entgegenkommen musste die Stadt auch mit Blick auf die Absicht, einen in der Gemeindeordnung nicht vorgesehenen Bürgerantrag einzuführen – und dem Magistrat vorzuschreiben, solche Anträge zu behandeln, sofern sie von einem Prozent der Einwohner der Stadt getragen würden. Nun soll es eine „Einwohnerpetition“ geben. Ausgerichtet an den einschlägigen Paragrafen 16 und 17 des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung sowie der Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung.

          Becher beschwört den „hohen Wert des Petitionsrechts“. Als Landtagsabgeordneter hat er mehr als einmal entsprechende Eingaben von Menschen auf dem Schreibtisch gehabt, die sich sonst nicht gehört fühlten, wie er sagte.

          Bedenken der Kommunalaufsicht beim RP

          Die Verwaltung hat für die neue Satzung laut Becher eng mit der Kommunalaufsicht beim Regierungspräsidium (RP) zusammengearbeitet, um etwaige Bedenken rasch aufnehmen und ausräumen zu können. Das RP hatte die alten Regelungen bemängelt, das Verwaltungsgericht in der Stadt und der Hessische Verwaltungsgerichtshof schlossen sich seiner Sichtweise an.

          Nun hofft Becher auf ein gerichtsfestes ortsrechtliches Regelwerk. Und nicht zuletzt auf eines, das Strahlkraft in Hessen entfalten und Nachahmer finden könnte. Schon das bisherige Bemühen, die Grenzen der politischen Bürgerbeteiligung auszudehnen, wurde in diversen Rathäusern aufmerksam beobachtet, wie den Gießenern gespiegelt wurde.

          Der Oberbürgermeister lässt aber keinen Zweifel an seiner Meinung, die kurz HGO genannte Gemeindeordnung gewähre den Menschen zwischen dem Raum Kassel und dem Odenwald zu wenige politische Einflussmöglichkeiten. Wenn ein Prozent der Einwohner einer Kommune meinte, die politischen Gremien müssten über ein Thema diskutieren, dann sollte dies auch geschehen, meint Becher. Hierfür müsste aber die HGO geändert werden, wie er weiß.

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