Wenn Statuen zu Hassobjekten werden
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Wie sich die Denkmäler doch ähneln: Bismarck-Statue, wie diese in Wiesbaden, gibt es in vielen deutschen Städten. Bild: Marcus Kaufhold
Fast überall in der westlichen Welt werden derzeit alte weiße Männer vom Sockel gestürzt. Aber hierzulande mangelt es an Feindbildern.
Sie stehen herum. Keinen stört es. Niemand nimmt sie zur Kenntnis. So war es bis vor kurzem. Nun aber richten sich die Aggressionen auf sie. Die Wut nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz in Minneapolis und der antirassistische Furor, zu dem die brutale Tat Anlass gab, entladen sich seit gut zwei Wochen auch in Gewalt gegen Statuen. Wie jetzt nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern zu beobachten ist, die wieder mit ihrer kolonialistischen Vergangenheit konfrontiert werden. Zu Zielobjekten und Hassfiguren des Protests sind Skulpturen von Männern geworden, die mehr oder weniger direkt mit Sklavenhandel, Kolonisierung und Imperialismus zu tun hatten. Am eindeutigsten ist gewiss der Fall des Kaufmanns und Sklavenhändlers Edward Colston, den Protestierende in Bristol vom Sockel geholt und ins Hafenbecken geworfen haben. Und die Forderung, die in Stein gehauenen und in Bronze gegossenen Südstaaten-Generäle in vielen amerikanischen Städten zu entfernen, erheben mittlerweile auch viele Politiker der Demokratischen Partei.
Aber es trifft in England auch Winston Churchill. Und in den Vereinigten Staaten sogar Abraham Lincoln, insofern Skulpturengruppen ihn zwar als Befreier der Sklaven, nicht aber mit dem Schwarzen, der pars pro toto für die Befreiten steht, auf Augenhöhe zeigen. In Belgien haben Demonstranten die dreidimensionalen Abbilder von König Leopold II. ins Visier genommen. Rote Farbe oder Tücher mit der Aufschrift „I can’t breathe“ sind Mittel der Wahl, um Abscheu vor den historischen Verbrechen an den Bewohnern ferner Kontinente zum Ausdruck zu bringen. Plötzlich sind die Bildhauerwerke wieder geschichtlich aufgeladene Objekte im öffentlichen Raum. Die Bürger früherer Zeiten mögen einen wohlgefälligen Blick auf sie geworfen und sich erfreut haben an großen Männern und ihren Taten, an identitätsstiftenden Politikern und Feldherren, zu Fuß oder gerne auch zu Pferde, Potentaten und Eroberern, den Gründungsvätern von Nationen und den Urhebern von Ideologien. In Amerika wird nun aber auch Christoph Kolumbus vom Sockel geholt. Und auch alle, die im Stadtbild ihren Mann stehen, können unter Verdacht geraten: In London nahmen sich „Black Lives Matter“-Demonstranten Mahatma Gandhi vor. Ein Versehen.
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