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Kinder der Gastarbeiter : Zurückgelassen bei Verwandten in der Türkei

  • -Aktualisiert am

Generation Einskommafünf: Olcay Acet in ihrer Ausstellung Bild: Helmut Fricke

Die Künstlerin Olcay Acet hat Kinder der ersten Einwanderungsgeneration befragt. Die Videos sind jetzt in der Bildungsstätte Anne Frank zu sehen.

          3 Min.

          Olcay Acet war anderthalb Jahre alt, als ihre Mutter als Gastarbeiterin nach Deutschland ging. Sie und ihr damals vierjähriger Bruder blieben mit dem Vater zurück. Dieser wiederum machte sich zwei Jahre später ebenfalls zum Arbeiten auf den Weg nach Deutschland. Die Geschwister wurden voneinander getrennt; Olcay kam bei den Großeltern väterlicherseits unter, ihr Bruder bei den Großeltern mütterlicherseits. Das war 1974, erst 1980 holten die Eltern die Neunjährige und den Dreizehnjährigen zu sich nach Tübingen.

          Zu diesem Teil ihrer Lebensgeschichte hatte Acet lange Zeit keinen Zugang. „Ich verdrängte Gefühle und unterdrückte Bedürfnisse“, resümiert die Vierundvierzigjährige. Erst als sie selbst Mutter wurde, nahm sie wahr, welche Folgen das Zurückgelassenwerden hatte und noch immer hat - für ihre persönliche Entwicklung, im Umgang mit anderen und bei der Wahrnehmung ihres Umfelds. „Ich habe mich hier nie willkommen gefühlt“, sagt Acet. Nach und nach befasste sie sich intensiver mit der Frage, welche Folgen es hat, als Kind von den Eltern verlassen zu werden.

          Die Generation Einskommafünf

          Von Freundinnen und Freunden, die ebenfalls aus der Türkei stammen, erfuhr sie, dass sie mit vielen anderen dieses Schicksal teilt. Das Trauma aus der Kindheit begleitet die inzwischen Erwachsenen: Die einen finden keinen Halt im Leben, fühlen sich von niemandem angenommen und sind grundsätzlich misstrauisch; andere begleitet permanent das Gefühl von Traurigkeit, sie können ihre Tränen nicht unterdrücken, sobald ihre Biographie zum Gesprächsthema wird; andere können keine Gefühle zeigen, sind extrem hart zu sich selbst und zu anderen.

          Die Zahl der bei Großeltern oder anderen Verwandten zurückgelassenen Töchter und Söhne türkischer Gastarbeiter wird auf 700.000 geschätzt; sie gehören weder zur ersten noch zur zweiten Generation von Einwanderern, sondern sind „etwas dazwischen“, weil sie ja nicht als Erwachsene emigrierten, aber auch nicht hier geboren wurden, erklärt Acet. Für dieses Dazwischen-Sein kreierte sie den Begriff Generation Einskommafünf, führte Interviews mit Betroffenen und zeichnete diese mit einer Videokamera auf. Jede ihrer Interviewpartner bekam maximal anderthalb Stunden Zeit, um aus der Kindheit und dem Erwachsenenleben zu erzählen und auf ihre Fragen zu antworten. Acet hat die Interviews kaum bearbeitet. „Nur wenn bei sehr Persönlichem darum gebeten wurde, habe ich diese Passagen rausgeschnitten“, erklärt die Künstlerin. Weil sie den Betroffenen die Möglichkeit geben wollte, „ohne Zensur“ ihre Geschichte zu erzählen.

          Ein Chor an Lebenserfahrungen

          Aus Gesprächen mit ihresgleichen entstand die Videoinstallation Generation Einskommafünf. Das Motiv, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, sei ein doppeltes: Einerseits solle über die künstlerische Auseinandersetzung in einer Art Selbsttherapie das Trauma bewältigt werden, andererseits gehe es darum, „dass dieses Kapitel der Migrationsgeschichte mehr beachtet wird“.

          Die Videoinstallation entstand bereits vor fünf Jahren. Sie setzt sich zusammen aus 18 Bildschirmen, auf denen die Interviews in Endlosschleife laufen. Die Ausstellung läuft in der Bildungsstätte Anne Frank - aus Platzmangel mit lediglich zehn Bildschirmen. Jeder Vertreter der Generation Einskommafünf spricht für sich, zusammen bilden sie einen Chor, der im Ausstellungsraum zu hören ist, jeder Erzählung kann aber auch einzeln über Kopfhörer gefolgt werden.

          „Die Geschichte wiederholt sich heute“

          Die Besucher werden mit intimen und intensiven Berichten über schmerzhafte Momente konfrontiert. Acets Interviewpartner - darunter die Autorin dieser Zeilen - entschieden sich bewusst für den teils sehr persönlichen Austausch mit der Öffentlichkeit, weil sie auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft und der Politik hoffen. „Wir sind es leid, mit Defiziten in Verbindung gebracht zu werden - statt mit dem, was wir trotz unserer Traumata geschafft haben -, und erhoffen uns für die künftigen Vertreter der Generation Einskommafünf mehr Empathie. Denn die Geschichte wiederholt sich ja leider - heute mit Kindern aus anderen Herkunftsländern“, sagt Acet.

          Zu sehen war die Videoinstallation erstmals 2011 im Museum Mitte in Berlin, danach in einigen anderen Städten. „In Frankfurt hatte sich keiner der angefragten Museen und Institutionen für mein Projekt interessiert“, erklärt die Frankfurter Künstlerin. Die Relevanz und die Aktualität des Themas erkannte schließlich Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank. Nicht nur das Thema, sondern auch der Zugang entspreche dem Ansatz der Einrichtung, die in Sonderausstellungen Raum für Erinnerungen und Erfahrungen bieten wolle - in diesem Fall, um dem „dominanten Narrativ“ der deutsch-türkischen Migrationsgeschichte eine andere Perspektive hinzuzufügen. Angesichts der „größten Migrations- und Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg“, die Deutschland und Europa derzeit erlebe, lohne sich der Blick in die Vergangenheit, meint Mendel, „auch, um begangene Fehler nicht zu wiederholen“.

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