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Bedrängte Mittelständler : Unerwartete Post vom Insolvenzverwalter

Familiensache: Marion Gottschalk führt mit Ehemann Eric Gottschalk und ihrem Vater Wilhelm Blatz die Ille Papier-Service GmbH in Altenstadt Bild: Wolfgang Eilmes

Die Insolvenzordnung erlaubt es, bis zu zehn Jahre zurückliegende Zahlungen einzufordern. Was das für einen Mittelständler bedeuten kann, zeigt das Beispiel Ille.

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          Sigrun Bönsch erhält immer wieder geldwerte Post - allerdings könnte sie auf so manches Schreiben verzichten. Denn der Absender ist öfter ein Insolvenzverwalter, der Geld von ihrem Arbeitgeber will. Dabei geht es um Rückforderungen zwischen 400 Euro und 12.000 Euro, wie Bönsch als Leiterin des Mahnungswesens der Firma berichtet. Die Überweisungen, auf die Insolvenzverwalter sich beziehen, liegen in der Regel nicht nur Jahre zurück: Die Betriebe, die das Geld überwiesen haben, waren zu jener Zeit noch gar nicht insolvent. Zahlen soll Bönschs Arbeitgeber dennoch. „Das schlägt dem Fass den Boden aus“, meint die blonde Frau. Doch der Reihe nach.

          Thorsten Winter
          Korrespondent der Rhein-Main-Zeitung für Mittelhessen und die Wetterau.

          Bönsch arbeitet für die in Altenstadt ansässige Ille Papier-Service GmbH mit Kunden in ganz Europa, die Handtuch- und Seifenspender, Toilettenbürsten und anderen Hygieneartikel beziehen. Das Geschäft von Ille floriert: Das Familienunternehmen hat erst vor einem Jahr seine neue Zentrale in Betrieb genommen und das vergangene Geschäftsjahr mit einem Umsatzzuwachs von 6,2 Prozent auf 67,4 Millionen Euro abgeschlossen. Es verdient Geld - wie viel, behält es für sich. Außerdem bietet Ille seine Dienste neuerdings auch auf Mallorca an und will in diesem Jahr sieben Millionen Euro in neue Produkte investieren.

          Kunden immer wieder einmal klamm

          Bönsch kennt sich gleichwohl mit klammen Kunden aus. Denn Ille versorgt mehr als 26.000 Gaststätten, Hotels und andere Kunden. Denn wie es im Wirtschaftsleben eben so ist: Nicht bei jedem Kunden laufen die Geschäfte immer gut, die Einnahmen schwanken, manchmal knicken sie ein. „In der Gastronomie und Hotellerie kommt es immer wieder einmal zu Zahlungsschwierigkeiten“, weiß Marion Gottschalk, geschäftsführende Gesellschafterin von Ille, aus Erfahrung. So brechen etwa Betreiber von Biergärten infolge mehrerer verregneter Wochen die Umsätze ein. Verlasse der Koch eine Gaststätte, schlage dies nicht selten eine Zeitlang negativ auf die Erlöse durch.

          Auch Neueröffnungen sind laut Gottschalk öfter ein Anlass für Ebbe in der Kasse. Erfahrungsgemäß dauere es ein paar Monate, bis das Geschäft richtig in Schwung komme und dauerhaft ordentlich laufe. Ille berichtet auch von Kunden mit einer Baustelle vor der Ladentür und einem deshalb schwächelnden Geschäft. Nicht zuletzt blieben Umsätze wegen Umbaus aus, der wiederum Geld koste. Ille bietet für solche Fälle eine Ratenzahlung an - wohl wissend, dass auf Regen bald wieder Sonnenschein kommt, eine Baustelle oder ein Umbau nicht ewig dauert und der zwischenzeitlich klamme Kunde folglich in absehbarer Zeit wieder mehr Geld einnimmt.

          Meist nur eine Frage von Monaten

          Die Firma hat sich laut Gottschalk sogar eine Software für Ratenzahlungen programmieren lassen. Dabei ist die Zahl der Kunden mit Zahlungsschwierigkeiten durchaus übersichtlich. Bönsch beziffert sie auf fünf Prozent der 22.000 Bezieher von Ille-Artikeln in Deutschland. Und die meisten Liquiditätsprobleme seien nach ein paar Monaten vorüber. So mancher Insolvenzverwalter schaue aber nicht nur drei Monate, sondern bis zu zehn Jahre zurück, wie es bei Ille heißt. Das wiederum liegt am Insolvenzrecht. Das Stichwort lautet Anfechtungsfrist.

          Die Insolvenzordnung erlaubt es, bis zu zehn Jahre zurückliegende Zahlungen einzufordern, also anzufechten. Und zwar dann, wenn eine Firma angeblich hätte wissen müssen, dass der Kunde schon in einer finanziellen Schieflage war. Anders gesagt: Wenn der klamme Schuldner einen seiner Gläubiger vorsätzlich bevorzugt hat, indem er dessen Rechnung beglich, und der davon wusste, können Insolvenzverwalter eine Rückforderung an den jeweiligen Gläubiger richten.

          Hellseherische Fähigkeiten gefragt

          Das mag für den Laien kurios klingen, weil es hellseherische Fähigkeiten von Gläubigern im Zusammenhang mit der Finanzkraft von Kunden verlangt. Der Lieferant müsste, bloß weil sein Kunde einmal vorübergehend nicht zahlen kann, dessen Pleite vorhersehen. Es ist jedoch Rechtslage und wird angewandt, wie es bei Insolvenzverwaltern in Frankfurt heißt. Schließlich müsse ein Insolvenzverwalter sein Möglichstes tun, um für Gläubiger einer zahlungsunfähigen Firma so viel wie möglich herauszuholen. Die Anfechtungsfrist von zehn Jahren ergebe durchaus Sinn - andernfalls bliebe der Zugriff auf mutmaßlich den Gläubigern zustehende Summen, auf die Insolvenzverwalter im Laufe der Recherche stießen, verwehrt.

          Kein Abnehmer ihrer Artikel habe ihr aber je gesagt, vorsätzlich Ille bevorzugt zu haben, versichert Geschäftsführerin Gottschalk. „Wir könnten ihm auch gar keinen Vorteil bieten.“ Gleichwohl erhalte ihr Betrieb Mahnbescheide von Insolvenzverwaltern sogar in Fällen mit einem Streitwert unter 1000 Euro. Ille widerspricht laut Bönsch und Gottschalk diesen Bescheiden, danach komme es zum Vergleich oder zur Klage - „weil die Geld sehen wollen“. In etwa 20 Fällen hat sich Ille verglichen, zwei neue Fälle kommen monatlich hinzu, wie es weiter heißt.

          Die Firma sieht sich in einer Zwickmühle: Entweder dürfte sie keine Ratenzahlung mehr anbieten oder müsse das Konto eines Kunden mit Zahlungsverzug gleich pfänden lassen, meint Gottschalk und winkt gleich ab: „Das geht nicht.“ Ille wolle keinen Kunden brüskieren oder gar verlieren. Klar ist: Ille steht mit seinen Sorgen nicht allein da. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Frankfurt berichtet von Dutzenden ähnlicher Fälle. Die IHK Wiesbaden hat heimische Bundestagsabgeordnete auf das Thema aufmerksam gemacht. In dem Schreiben bemängelt sie eine „unsichere Rechtslage“. Der Hintergrund: Der Gesetzgeber will abhelfen, nachdem manche Insolvenzverwalter mit pauschalen Serienbriefen für Unmut gesorgt hatten. Im Gespräch ist, die Anfechtungsfrist von zehn auf vier Jahre zu senken. Das geht der IHK aber nicht weit genug. Sie plädiert für eine Frist von zwei Jahren.

          Gottschalk findet dessen ungeachtet schon die Überlegung, wenn Zahlungsprobleme bestünden, dann drohe eine Insolvenz, unrealistisch: „Wenn ein Kunde überweist, macht er das freiwillig.“

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